Theorie oder Ideologie?

Nach Erscheinen unserer Nummer 14/2019 darf ich nun auch meine eigene Meinung zum Thema kundtun:

(Vorbemerkung: Der Terminus «Gender» ist blöd. Warum ein englischer Ausdruck, den der Durchschnittsmensch nicht oder sofort falsch versteht? Also: Weg mit ihm im deutschen Sprachraum und an den deutschsprachigen Universitäten. Lasst Euch was Gescheiteres einfallen. Lehrstuhl für Geschlechterforschung, für geschlechtsspezifisches Verhalten oder so.)

«Gender», eine Theorie? Ja, eine von vielen möglichen Theorien (soziologischer, psychologischer und historischer Art), Menschheitsgeschichte und Menschenschicksale zu deuten. Eine solche «Theorie» steht weder höher noch tiefer neben anderen möglichen Ansätzen (ich erwähne als Theologe nur theologische): Befreiungstheologie, historisch-kritische Methode, sprachphilosophische Deutung und deren viele mehr. Aber, und hier spricht der Kantianer, auch diese Theorie ist von niedrigerer Bedeutung und Relevanz als die Erkenntnistheorie und ihr untergeordnet.
Denn: Die oberste aller Theorien, gerade auch in der Theologie, ist die Frage: Was können wir gesichert wissen, rational begründen und darum ethisch verantwortet als Wahrheit darstellen? Und umgekehrt: Was ist eine eine von vielen möglichen Antworten auf menschliche Fragen, hat den Popper’schen Plausibilitätstest (könnte nicht auch das Gegenteil wahr sein?) nicht bestanden und dient damit – absolut gesetzt – nichts als der ethisch nicht zu verantwortenden Einnahme von Macht aufgrund sogenannt absoluter Wahrheit?

Nun ist «Gender» eine mögliche Art und Weise, Menschengeschichte und Menschengeschichten zu deuten, aber nicht die einzige. Sie bedarf geradezu der Komplementarität, indem sie eingemittet wird in die (kulturellen, geographischen, klimatischen etc.) Rahmenbedingungen einer bestimmten Epoche. So bescheidener geworden, dient sie der Erklärung, und vor allem dessen, wozu sie geboren wurde: der Emanzipation der Unterdrückten jeder Zeit.

«Gender», eine Ideologie? Ja, wenn sie sich nicht an die oben skizzierte erkenntnistheoretische Bescheidenheit hält und sich absolut setzt. Wenn sie gar der neuen Unterdrückung (aller Männer, aller Heteros, aller Weissen, aller Angehörigen einer bestimmten Religion, Rasse oder Schicht) dienen will. Genau wegen einer gewissen Arroganz, wie «Gender»-Fachleute auftreten und andere abwerten, ist sie auch in so üblen Ruf geraten, tönt ihr solche Aggressivität entgegen.

Ich bleibe darum einfach und bescheiden bei der Meinung, wie sie in meiner Glosse auf S.271 zum Ausdruck kommt: «Gender» als seriöse Betrachtungsweise ist absolut notwendig, wenn sie Kindern und Jugendlichen dazu verhilft, dass diese nicht aufgrund ihres feststehenden sexuellen Geschlechts in vorgegebene Rollenbilder gesteckt werden, die ihnen in ihrem emotionalen und seelischen Wesen gar nicht entsprechen.

Lassen Sie mich darum mit einer (für die, die S.271 gelesen haben) dritten Anekdote enden:

Warum ein Landdienst nicht zum Ziel führte.
Im zweiten Jahr am Gymnasium wurden wir für eine Woche in einen so genannten «Landdienst» verfrachtet. Anscheinend gingen irgendwelche Pädagogen von der Annahme aus, dass es uns einigermassen gescheiten Jungs und Mädels nicht schaden könnte, Gotthelf nicht nur zu lesen, sondern auch auch in Gülle und Heu zu waten. Nun reiste der Stadtbub, der ich war, ins Toggenburg zum Gemeindepräsidenten von Dietfurt und auf seinen Hof. Dort versuchten er und sein rumänischer Knecht (»God’s own country» lässt grüssen, leider war er nicht hübsch!) mir landwirtschaftliche Gebräuche beizubringen. Ich versagte total, schnitt mich an den Geräten und verscheuchte die Hühner. Stirnrunzelnd verfrachtete mich der Chef so nach drei Stunden Versuchsphase in die Küche zu seiner Frau, wo ich bis Ende des Dienstes verblieb und wieder tat, was ich auch zuhause schon konnte: Kuchen und Brot backen und über Musik und Literatur schwatzen. Wer’s nicht glaubt: È veramente vero!

 

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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