Mut zum Experiment

«Was die Menschen beschäftigt, beschäftigt auch die Kirche.» Diesem Motto getreu beschäftigt sich das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) in St. Gallen seit 50 Jahren mit gesellschaftlichen Fragen, um der Kirche dabei zu helfen, die Lebenswirklichkeit der Menschen besser zu verstehen.

Kulturelle Vielfalt

Traditionsabbruch, postmigrantische Kirchensituation und Strukturwandel kirchlicher Organisationsformen sind in den letzten fünf Jahren die wohl grössten Herausforderungen der katholischen Kirche in der Schweiz geworden. Die Zahl der Kirchenaustritte sind noch vergleichsweise niedrig, so der Institutsleiter des Schweizerischen Pastoralsoziologisches Institut Arnd Bünker. Der Traditionsabbruch hingegen zeige sich stärker in der gelebten Praxis der Kirchenmitglieder. Kirchliche Trauung und die Taufe als wichtige Bezugspunkte zur Kirche würden immer mehr wegfallen. Die Kernaufgabe der Kirche sei es darum heute, in ganz neuen Formen Zeugnis vom Evangelium zu geben, weil viele Menschen mittlerweile schon seit zwei oder drei Generationen kirchlich distanziert sind. Die katholische Kirche von heute wird zudem durch die kulturelle und spirituelle Vielfalt und durch zahlreiche spirituelle und kulturelle Mischformen des Katholischen geprägt. «Aktuell wird intensiv diskutiert, wie die katholische Kirche mit dieser neuen Form von ›Weltkirche in der Nachbarschaft’ umgehen soll», erklärt Bünker. Hierbei gehe es nicht zuletzt um die alltägliche Erfahrung einer Mehrheit junger Familien in der Schweiz. Denn nur noch knapp die Hälfte junger Ehepaare in der Schweiz besteht ausschliesslich aus SchweizerInnen. Da kulturelle Vielfalt längst zum Familienalltag gehört, müsse diese Realität in der Kirche noch stärker in den Blick genommen werden.

Vertraute Formen von Kirche-Sein werden in Zukunft verschwinden

Seit Jahren ist der tiefgreifende Strukturwandel der katholischen Kirche in der Schweiz zu spüren. Dabei stehen Fragen zum fehlenden Kirchenpersonal und auch die Definition von pastoralen Organisationsräumen im Zentrum. «In der Kirche lässt sich angesichts der zahlreichen Umbrüche viel neue Kreativität, aber zugleich auch viel Orientierungslosigkeit ausmachen», so Bünker. Viele vertraute Formen von Kirche-Sein werden in Zukunft verschwinden. Es wird auch weiterhin einen grossen Wandel im Leben der Pfarreien geben. Bünker ist sich sicher, dass es aber nicht nur Abbrüche geben wird, sondern auch Aufbrüche und Neuentdeckungen. «Ich schliesse nicht aus, dass heute vermeintlich Überkommenes morgen in leicht veränderter Form zu einem Trendmerkmal der Kirche werden wird.»

Frage der Kirchenreputation und christlicher MigrantInnen in der Schweiz

Das SPI konnte in den letzten 50 Jahren viele Impulse zum Aufbau neuer kirchlicher und pastoraler Institutionen in der Schweiz vermitteln. «Das fing mit der Errichtung moderner Bistumsverwaltungen (Ordinariate) an und setzte sich mit der Umsetzung der Beschlüsse der Synode 72 fort», betont der Institutsleiter. «Später hat das SPI die pastoral- und religionssoziologische Grundlagenforschung intensiviert.» So konnte die Individualisierung der Schweizer Bevölkerung im Blick auf Religionsfragen nachgewiesen werden. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt mit der Frage der Kirchenreputation und der Frage christlicher MigrantInnen in der Schweiz beschäftigt. «Diese Forschung findet ein starkes Echo bei den Kirchenverantwortlichen und auch bei den Seelsorgenden an der Basis», sagt Bünker.

Ohne Vorurteile an Lebenswelt anschliessen

Auch Claudia Mennen, Leiterin der Propstei Wislikofen, lässt die Forschungsarbeiten des SPI in ihren Kursen und Beratungen einfliessen. Sie war um die Jahrtausendwende selbst durch ihre Mitgliedschaft in der Pastoralplanungskommission mit dem SPI verbunden und erlebte die Sonderfallstudie und deren Ergänzungsbände als Früchte langjähriger religionssoziologischer Forschungsarbeit. Sie bemühte sich, Kommissionen der Landeskirche im Aargau sowie des Bistums Basel zu transferieren. «Das war eine Herausforderung.»

Für Mennen ist klar, dass die kirchlichen Akteure sich an die Lebenswelten der Menschen anschliessen müssen – ohne Vorurteile. Da der Glaube schon lange nicht mehr die Leitkultur in der Gesellschaft ist, müsse die Kirche ihre Rolle neu erfinden. «Die Kirche kann Partnerin und Unterstützerin sein für eine freiheitliche, solidarische Zivilgesellschaft. Im Hinblick auf ihre eigenen Reihen muss die Kirche lernen, ihren klerikalen Habitus abzulegen», betont Mennen. Die Kirche blicke einem immer grösser werdenden Bedeutungsverlust ins Auge, beschleunigt durch Unglaubwürdigkeit und Fehlmanagement. «Da hilft es auch nicht, wenn in vielen Pfarreien kompetente Arbeit geleistet wird.» Es benötige Reformen und ein «Bekenntnis zum Geist des Konzils».

Kirche benötige weniger Dogmen und Machtballung

Dass es Reformen benötigt, um wieder eine Chance auf Glaubwürdigkeit gegenüber den Menschen zu bekommen, findet auch Arnd Bünker. «Die Frage der Gewaltenteilung in der Kirche lässt sich heute ebenfalls kaum noch länger aufschieben. Gerade angesichts der tiefsitzenden Verunsicherung über den richtigen Weg der Kirche könnte ein mutiges Ja zu einer echten synodalen Kultur, nicht nur zu einem einzelnen Synodenevent, wichtige Ressourcen freisetzen.»

Dem kann auch Christina Johansson, CFO beim Industriekonzern Bilfinger SE, zustimmen, die bei der Veranstaltung «50 Jahre SPI» als Referentin eingeladen wurde. Sie ging von Planungsprozessen in der Wirtschaft aus und gab Hinweise darauf, was bei kirchlicher Planungsarbeit zu berücksichtigen ist. Die Kirche benötige weniger Dogmen und Machtballung, sondern mehr mutige Akteure innerhalb der Kirche und echte Bereitschaft zur Veränderung, hält Johansson fest.

Starker Impuls

Der St. Galler Bischof Markus Büchel sieht es als ein «Zeichen für die Überzeugungskraft und den Durchhaltewillen», dass es das SPI auch noch nach 50 Jahren gibt. Er nahm die Ergebnisse des SPI in der Pfarreiarbeit immer als «starken Impuls» wahr, um «den Blick auf den Wandel in der Gesellschaft nicht zu verlieren und in angstfreier Offenheit Pastoral als einen Weg mit den Menschen zu verstehen.» Für ihn steht fest, dass immer dort, wo die Forschungsarbeit des SPI ernst genommen wurde und in der Pastoral Anklang fand, «für die Planung der Kirche in die Zukunft tragfähige Wegweiser gesetzt wurden».

Neue Ideen und Innovationen

Wichtig für das SPI sei die Konfrontation mit der Realität, «gerade auch mit einer Realität, die für die Kirche wenig schmeichelhaft ist. Einerseits mag das frustrieren, andererseits schützt echte Realitätsnähe aber auch vor Selbstüberforderung durch zu hoch gesteckte Ziele. So können realistische Handlungsspielräume gefunden, definiert und genutzt werden», sagt Arnd Bünker. In den kommenden Jahren werden die Diskussionen darüber notwendig werden, wie «die zentralen Dimensionen der kirchlichen Sendung, Gottesdienst, Nächstenliebe, Zeugnis und Gemeinschaft, mit weniger Ressourcen gelebt werden können». Es brauche Ideen, da sich die Umwelt der Kirche weiter «entkirchlichen» wird. Nur mit neuen Ideen und Innovationen kann der «Prozess der Entfremdung von den Menschen» zu stoppen sein. Da sich das religiöse Bedürfnis der Menschen in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz drastisch gewandelt hat, wird das SPI diesen Wandel religiöser Praxis auch in Zukunft weiter untersuchen und ihre Ergebnisse der Kirche zur Verfügung stellen. «In der Pastoral vor Ort wird ebenso viel Mut zum Experiment wie auch Frustrationstoleranz notwendig sein, wenn es um das Zeugnis vom Evangelium geht», sagt Bünker hoffnungsvoll.

 

Jacqueline Straub

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/mut-zum-experiment-2/