Von ganz unten ganz nach oben

Das Grossmünster ist nicht nur wegen der Reformation das Wahrzeichen von Zürich. Dort arbeitet heute Michael Frauenfelder, der lange auf der Strasse gelebt hatte. Kraft gab ihm der Klang der Glocken – heute ist er Glöckner und bedient die vier massiven Glocken, die 1889 gegossen wurden. 

Michael Frauenfelder war ganz unten, bevor er es ganz nach oben schaffte, schreibt die «Aargauer Zeitung». Ganz oben, das ist auf der Aussichtsplattform des Grossmünster-Glockenturms, dem mächtigsten Kirchturm von Zürich. Von den Glocken und dem Geläut weiss kaum einer mehr Bescheid als der Glöckner des Grossmünsters. Ganz unten, das war die Zeit auf der Strasse: Vor acht Jahren landete Frauenfelder in der Gosse. Er war gerade 30, hatte keinen Job, verlor die Wohnung, die Sozialleistungen, die Freundin. Er fiel durchs Netz. Ein halbes Jahr lebte Frauenfelder auf der Strasse, schlief mal hier, mal dort, schnorrte bei Passanten um Geld, fragte bei Turnhallen-Abwarten, ob er ab und zu die Dusche benutzen dürfe, schreibt die «Aargauer Zeitung».

Glockentürme besucht

Hart war das, plötzlich alles verloren zu haben und Nacht für Nacht draussen in der Kälte zu schlafen. Doch Frauenfelder haderte nicht. Kraft gaben ihm die Kirchen. Weniger der Glaube an Gott als vielmehr der Klang der Glocken. Schon als Sechsjähriger war der kleine Michael ein Glockensüchtiger. Fast jeden Samstag stieg er mit dem Sigrist in seinem Heimatdorf auf den Turm und lauschte dem Geläut. Mit seinem Klavierlehrer durfte er ab und zu in der Kirche auf der Orgel üben. Nach der Schule machte Frauenfelder eine Lehre als Maschinenmechaniker und fuhr mit seinem Velo in jeder freien Minute im Land umher, um Glockentürme zu besuchen. Über 500 hat er in seinem Leben schon gesehen. Er kann das Geläut von Dutzenden Kirchen in der Schweiz blind unterscheiden.

Von Hand läuten

Frauenfelder weiss alles über Glocken, sie sind seine Welt. Sie waren es auch in der schwersten Zeit seines Lebens. Täglich blickte er als Obdachloser hinauf zu den mächtigen Festen der Zürcher Gotteshäuser, wo viele seiner Lieblingsglocken hängen. Im Frühjahr 2012 landete Frauenfelder im Pfuusbus von Pfarrer Sieber. Er hatte nichts mehr ausser einer Winterjacke und ein paar Ausweisen. Weil Frauenfelder kein Suchtproblem hatte und körperlich fit war, ging alles plötzlich ganz schnell. Er bekam Unterkunft in der Notwohnsiedlung, jobbte im Stundenlohn als Zügelhelfer und hörte irgendwann, dass sie im Grossmünster eine angestaubte Tradition wieder aufleben lassen wollen: Die Kirche suchte Freiwillige, die Dachreiterglocke zu speziellen Ereignissen von Hand läuten würden.

Frauenfelder meldete sich und fing bald darauf an, die Dachreiterglocke an Festtagen nach alter Manier als imposantes Vollgeläute zu inszenieren. Nebenher übernahm er kleinere Aufgaben im Grossmünster, putzte mal den Turm, flickte mal die Lampe, war ein guter Geist. In der Weihnachtszeit 2013 kam der Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist zu ihm und sagte: «So geht’s nicht weiter, du brauchst eine Anstellung.» Vier Monate später, vor genau fünf Jahren, unterschrieb Frauenfelder seinen Arbeitsvertrag. Heute ist er Sigrist in der grössten Kirche der Stadt. «Das war ‹scho es betzeli› eine Auferstehung», sagt Frauenfelder. «Glänkt ond gleitet vo obe» sei das alles gewesen.

Herzlich, Markus Baumgartner

Markus Baumgartner

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