«Die Systemkrise ist nicht überwunden»

«Die Systemkrise ist nicht überwunden»

Mit diesen Worten hat die Neue Zürcher Zeitung vom 14. September 2018 ihren Kommentar zum Rückblick auf die vor zehn Jahren ausgebrochene Bankenkrise überschrieben. Auch in vielen anderen Medienberichten zu diesem Thema war dies eine der zentralen Aussagen.

Zehn Jahre nach der Bankenkrise

Zunächst haben mich diese Analysen überrascht. Denn viele Banken erzielen wieder Gewinne. Am Tag vor dem erwähnten Zeitungsartikel verschickte SRF eine Pushmeldung mit dem Titel «Schweizer Wirtschaft brummt». Und manche Banken weisen schon seit einigen Jahren wieder satte Gewinne aus. Aber die vermeintliche Bewältigung der Krise beruht auf Interventionen der Zentralbanken, die zu einem globalen Schuldenberg führen, der seit der Krise unvermindert weiter wächst. Die Systemkrise ist also nicht überstanden – und zwar deshalb nicht, weil das Problem bisher nicht nachhaltig und glaubwürdig gelöst ist.

Parallelen zur «Kirchenkrise»

Diese Analysen 10 Jahre nach der Bankenkrise haben mich an die aktuellen Entwicklungen in der katholischen Kirche denken lassen. In den letzten Jahren des Pontifikats von Papst Benedikt, der im Februar 2013 demissionierte, war die Rede von der «Krise der Kirche» sehr weit verbreitet. Nicht nur die Medien und kritische Theologinnen und Theologen, sondern auch Kardinäle, Bischöfe und sogar der Papst selbst wählten drastische Worte. In einem Interview 2010 sagte Benedikt XVI. zur Missbrauchsthematik «Ja, es ist eine grosse Krise, das muss man sagen. Es war für uns alle erschütternd. Plötzlich so viel Schmutz».

Stimmungsumschwung dank Papst Franziskus

Mit Papst Franziskus änderte sich die Stimmung. Er ist wohl nicht zuletzt als «Krisenmanager» gewählt worden, weil er «vom anderen Ende der Welt kam». In seinem Statement im Vor-Konklave hatte er die um sich selbst kreisende Kirche als «krank» bezeichnet. Er plädierte für eine Evangelisierung, die «kühne Redefreiheit voraussetzt» und «aus sich selbst herausgeht … bis an die Ränder».

Sein bescheidener Lebensstil, seine verständliche Sprache, die Einsetzung eines Beratungsgremiums zur Kurienreform, seine Betonung der sozialen Dimension des Evangeliums oder die Neuerungen, die er z.B. bei der Vorbereitung der Bischofssynoden einführte, überraschten positiv und weckten Hoffnungen auf Reformen.

Das Wort Krise ist zurück

Aber in den letzten Wochen und Monaten zeichnet sich zumindest in unseren Breitengraden erneut ein Stimmungsumschwung ab. Das Wort «Krise» ist zurück. Grund dafür sind einerseits umfassende Berichte zur Missbrauchsproblematik, die das Ausmass der Vergehen noch deutlicher machen, und anderseits die Konflikte, in die der Papst direkt involviert ist und in denen seine Kritiker nicht davor zurückschrecken, seinen Rücktritt zu fordern. Hinzu kommt der Eindruck, dass manche seiner Personalentscheide problematisch waren, dass er manchmal etwas unvorsichtig kommuniziert, dass die erforderlichen Strukturveränderungen schwer vorankommen und dass man manchmal nicht weiss, wie die unterschiedlichen Signale zu Reformthemen zu deuten sind.

Nicht nur bezüglich der Missbrauchsproblematik, sondern auch bezüglich der Fragen, wie die Strukturen und das Recht der Kirche, aber auch ihr Verhältnis zur Sexualität oder die Rolle der Frauen in kirchlichen Ämtern sich angesichts der Zeichen der Zeit weiter entwickelt werden müssen, trifft auch auf die Kirche die Bilanz zu, dass «die Systemkrise nicht überwunden» ist.

Die verbreitete Hoffnung, dank Papst Franziskus könne die Kirche die unter Papst Benedikt weit verbreitete depressive Stimmung überwinden und wieder unbeschwerter und kreativer aus der «Freude des Evangeliums» leben (Evangelii gaudium), hat einen argen Dämpfer erlitten. Dazu tragen nicht nur die Missbrauchsberichte selbst bei, sondern auch massive interne Konflikte um die Frage, wo die Gründe für die Probleme der Kirche liegen und wie damit umzugehen ist.

Natürlich ist zu hoffen, dass Papst Franziskus und die involvierten Strukturen und Personen auf weltkirchlicher Ebene die richtigen Schlüsse aus den Entwicklungen ziehen und notwendige Reformen einzuleiten und umzusetzen. Denn da es sich wirklich um eine «Systemkrise» und somit auch um eine strukturelle Krise handelt, kann sie nicht anders als «systematisch» und mit strukturellen Massnahmen behoben werden. Nur personelle Massnahmen zu treffen, geschickter zu kommunizieren oder an die individuelle Moral zu appellieren, ginge nicht weit genug.

Reformen dürfen nicht von einer Lichtgestalt abhängig gemacht werden

Gleichzeitig kann die Entwicklung auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Bewältigung einer «Systemkrise» bzw. die notwendigen Reformen der Kirche nicht von einer «Lichtgestalt» abhängig sein kann, sondern breiter abgestützt und im System selbst verankert werden muss, was weit über das hinausgeht, was ein Papst in wenigen Jahren leisten kann.

Das duale System kann Inspirationsquelle sein, sofern es sorgfältig gepflegt wird

Gleichzeitig kann nicht von «Rom» erwartet werden, was die Kirche und ihre Leitung, aber auch das gesamte «Volk Gottes» vor Ort selbst tun muss und tun kann. Wir verfügen über kirchliche und staatskirchenrechtliche Strukturen, dank denen viele Mitglieder der Kirche direkt darauf Einfluss nehmen können, was in der Kirche den Vorrang haben soll und wie die finanziellen Mittel eingesetzt werden und welche Personen als kirchliche Mitarbeitende die pastorale oder als gewählte Behördenmitglieder die staatskirchenrechtliche Verantwortung tragen. Mit dieser Mitgestaltungsmöglichkeiten und dieser Verantwortung können wir zwar die gesamtkirchliche «Systemkrise» nicht überwinden. Aber sie eröffnet immerhin die Chance, den Schaden in Grenzen zu halten und aufzuzeigen, dass es auch innerhalb der katholischen Kirche gut tut,

–wenn die Leitungsverantwortung nicht bei einem einzigen Verantwortungsträger liegt, sondern die Zuständigkeiten verteilt sind;

–wenn die Personalauswahl und -führung nicht nur «von oben» getroffen, sondern unter Einbezug der Gemeinde(n) vor Ort erfolgt;

–wenn die Finanzen demokratisch und transparent verwaltet werden.

Das «duale» und «demokratische» System kann zwar von der lokalen Ebene nicht einfach auf die weltkirchliche Ebene transponiert werden. Aber es könnte neue Lösungen inspirieren. Das allerdings erfordert, dass es auch in der Schweiz sorgfältig gepflegt und weiter entwickelt wird.

Daniel Kosch

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/die-systemkrise-ist-nicht-ueberwunden/