Jean Vanier zum Geburtstag

Ich bin eingeladen zum Abendessen in «Bethanie», einem der Häuser der Arche Fribourg. Einige Menschen, die dort leben, kenne ich noch von früher, anderen begegne ich das erste Mal. Es sind über 20 Jahre her, dass ich in der Arche Fribourg für drei Jahre lebt habe während meines Theologiestudiums. In den letzten Jahren hatte ich mir selten die Zeit genommen, die Gemeinschaft wieder zu besuchen.

Ich klingle anscheinend beim falschen Eingang, aber das macht nichts. So wie immer: Fehler stören nicht in der Arche, sie sind höchstens ein Grund, miteinander zu lachen. A., die mir die Tür aufmacht, erzählt, dass sie schon einiges von mir gehört hat. Wahrscheinlich hat die Ankündigung, dass ich zu Besuch komme, so manche Erinnerungen geweckt. Auch bei Tisch kommt öfter ein «Weisst du noch…?» Ja, mit ein paar Menschen hier habe ich eine gemeinsame Geschichte. Da ist J.D, der immer noch in der gleichen Werkstatt arbeitet und ganz stolz darauf ist. Da ist O., der mir mit glänzenden Augen erzählt, dass er sich am Wochenende verloben wird. Sie haben einen Priester gebeten, die Verlobung mit ihnen zu feiern und sind jetzt dabei, die letzten Details für den Apero zu planen. Da ist E., die seit der Gründung der Arche Fribourg in der Gemeinschaft lebt. Als ich mitgelebt habe, hat sie noch ausserhalb gearbeitet, inzwischen ist sie pensioniert. Und da sind auch junge Gesichter, Menschen, die sogar erst seit ein paar Wochen da sind. Das Gespräch am Tisch geht munter hin und her. Diese gute Dutzend Leute hat sich viel zu erzählen. Und dabei spürt man deutlich ein Merkmal der Arche-Gemeinschaften: Es gibt keine «BetreuerInnen», die ihr privates Leben zurückhalten und Menschen, die betreut werden, es ist eine Gemeinschaft und alle bringen sich ein, erzählen, was sie erlebt haben, fragen nach – wie eine grosse Familie.

Nach dem Essen stehe ich im Treppenhaus und schaue mir die Fotos derer an, die schon hier gelebt haben. S. gesellt sich zu mir. Beim Essen war sie sehr ruhig, jetzt wird sie lebendig. Ganz offen spricht sie davon, dass sie die Arche als Lebensort gewählt hat, weil ihr der Glaube sehr viel bedeutet und wie schmerzhaft es für sie war, sich am Anfang nicht wohlzufühlen in der konkreten Gemeinschaft. Jetzt, sagt sie, wisse sie, dass es auch an ihr liege und sie bemühe sich, sich mehr einzubringen und sich weniger zurückzuziehen.

S. ist es auch, die später das Abendgebet in der improvisierten Kapelle im Keller leiten wird. Wir sind 8 Personen, die singen, still werden und auch gemeinsam laut beten. Mich berührt die Einfachheit und Aufrichtigkeit des Betens.

Mit Freude im Herzen verabschiede ich mich wieder, es hat gut getan, einzutauchen in dieses lebendige Miteinander.

Von den fünf Personen, die ich mit den Anfangsbuchstaben erwähnt habe, lebt ein Teil mit einer geistigen Behinderung. Wer? Das ist nicht wichtig…

Jean Vanier, der Gründer der Arche wird heute 90 Jahre alt. Einmal war er bei uns zu Besuch in der Zeit, als ich Teil der Arche war. Ich erinnere mich nicht an seine Worte, sondern an die Selbstverständlichkeit, mit der er am Abend mit uns um den Küchentisch herum sass, auf einem kleinen, unbequemen Küchenschemel. Er war einfach «einer von uns». Und jeder Mensch, egal, ob oder wie behindert, bekam die gleiche Aufmerksamkeit von ihm

Sein Buch «In Gemeinschaft leben» oder mit dem passenderen französischen Titel: «Gemeinschaft: Ort der Versöhnung und des Festes» begleitet mich nach wie vor, es beschreibt in so einfachen Worten den Weg, immer mehr einfach «Mensch» zu werden in Beziehung und immer weniger Masken tragen zu müssen.

Jean Vanier gehört für mich zu den «lebendigen Heiligen», er und die vielen Menschen, die auf der ganzen Welt in diesen Gemeinschaften leben. Wenn man Jean Vanier heilig sprechen würde, müsste man auch Philippe und Raphael heilig sprechen, die beiden Männer mit geistiger Behinderung, die mit ihm zusammen die erste Arche gegründet haben.

 

Bettina Flick

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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