Schrecken und Schönheit

Am Sonntag wars. Auf dem Weg zum kath.ch-Auftrag nach Bern-Belp. Die Worte kommen wieder.

Es ist mein erster Tag wieder in der Schweiz nach zwei Wochen Berlin. Beflügelt noch von der grandiosen Fotoausstellung im Amerikahaus in Charlottenburg mit dem Titel «Wim Wenders – The Polaroids». Noch hatte ich den Satz von Robert Mapplethorpe, der auf der Eintrittskarte vom C/O Berlin stand, im Kopf: «Beauty and the devil are the same thing.»

Volle Fahrt, die Sonntagszeitung gut gelaunt auf den Knien. In Dulliken (AG) auf offener Strecke plötzlich ein scharfer Stopp. Ein seltsames Ruckeln. Sonderbare Geräusche. Eine Minute später nur: Ambulanz, Polizei, Feuerwehr. Wie schnell das geht. Stille im Zug. Fragende Blicke. Auch die feixende Wandergruppe schweigt. «Da ist was Gröberes passiert», sagt einer. Ja. Ich stehe auf und gehe ans Fenster und sehe es: Ein weisses Zelt jetzt auf dem Gleis. Dunkle Stellen. Männer, die mit Stöcken das Gleis absuchen. Zwei Stunden geht zwischen Aarau und Olten nichts mehr. Viel Zeit für das Kopfkino. Viel Zeit zum Nachdenken. Mit den anderen Zuggästen stehe ich nun am Sonntagmorgen um 9 Uhr im kalten Wind auf einem anderen Perron. Immer im Blick: Das weisse Zelt. Alles zieht sich zusammen. Hier ist gerade jemand gestorben. Ging es schnell? Wo ist seine Seele jetzt? Warum hat dieser Jemand das getan? Wer überbringt den Angehörigen die Nachricht? Und wie geht sowas? Der Kopf rattert. Am Perron sprechen fremde Menschen plötzlich über Lebensfragen.

Der Blick geht auf die andere Seite des Perrons. Dort steht es und es brennt sich einem ein: Ein Löschwasserfahrzeug.

Es geht weiter. Umsteigen in Olten nach Bern. Von dort nach Bern-Belp. Die Hoffnung keimt auf, doch noch rechtzeitig zur Einweihung der serbisch-orthodoxen Kirche zu kommen, da die Messen viele Stunden dauern. Und so kam es. Ein Mann bahnt mir den Weg durch die Leute in der proppenvollen Kirche, so dass ich noch zu  meinen Fotomotiven komme. Während der Messe: Zur Ruhe kommen, entspannen, ein Gebet für die Lebenden und den Toten. Und dann kommt wieder so ein Moment, wo die Schönheit den Schrecken vertreibt . Für die, die leben und mit allen Sinnen aufnehmen können: Die leuchtende Kraft der Ikonenbilder, das Gold der Gewänder der Priester, der vielstimmige Gesang des Chors, der Geruch des Weihrauchfasses, die spirituelle Kraft, die von singenden, betenden und schweigenden Menschen ausgehen kann. … Da ist dieses weisse Zelt. Doch die Schönheit der Künste und die Erfahrung von Gemeinschaft kann einen retten. In jeder Hinsicht.

Vera Rüttimann

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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