Kirche und Politik: «Wir können nicht vermeiden, konkret zu sein»

Wieder einmal werden in der Schweiz das Thema «Kirche und Politik» und das Verhältnis zwischen christlichen Werten und konkreter Tagespolitik intensiv diskutiert. Die Gemengelage ist komplex.

Tagespolitische Abstinenz der kirchlichen Hierarchie?

Der Churer Generalvikar Martin Grichting plädiert für eine weitgehende tagespolitische Abstinenz der kirchlichen Hierarchie, und singt in diesem Bereich das hohe Lied der Freiheit und Eigenverantwortung der Laien, obwohl er diese im eigenen kirchlichen Zuständigkeitsbereich eher geringschätzt, insbesondere wenn diese Mitverantwortung von staatskirchenrechtlichen Behörden wahrgenommen wird. Der kirchliche Lebensschutz wird strikte auf den Anfang und das Ende des Lebens limitiert – zu lebensbedrohlichen Problemen und Missständen «mitten im Leben» herrscht Schweigen.

Reden aus einer anderen Perspektive?

Der Basler Bischof Felix Gmür betont: «Die Kirche macht keine Politik. … Jeder Mensch und jeder Christ ist frei, die Partei zu wählen, die er für richtig hält. … Die Kirche hat mit vielen Parteien gemeinsame Ansichten und mit vielen divergierende. Das ist kein Problem. … Es ist nicht die Aufgabe der Kirche, das politische Geschehen zu gestalten. Die Kirche redet aus einer anderen Perspektive, die nicht Tagespolitik ist. Das ist eine prophetische Aufgabe.» Das ist diplomatisch gesagt. Allerdings spricht Bischof Gmür dann doch von Waffenexporten und von der Flüchtlingspolitik. Und als Präsident von Fastenopfer engagiert er sich für ein auch entwicklungspolitisch klar positioniertes Hilfswerk.

Der Rechtsstaat als einzige Norm christlich geprägter Politik?

Der CVP-Präsident Gerhard Pfister betont die Bedeutung der christlichen Werte und des C in der Politik, und sagt gleichzeitig: «Der Glaube und die christdemokratische Politik sind für mich verschiedene Welten. … Von Frömmelei jeder Art in der Politik halte ich hingegen nichts. … Die Norm, in der man sich politisch bewegen soll, ist einzig und allein der Rechtsstaat.»

Authentischer Glaube schliesst den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern

Andere Töne kommen aus Rom, von Bischof Franziskus. Er sagt klipp und klar: «Die Lehren der Kirche zu den säkularen Angelegenheiten (sprich: zu sozialen und politischen Fragen) … mögen Diskussionsgegenstand sein; wir können jedoch nicht vermeiden, konkret zu sein … damit die grossen sozialen Grundsätze nicht bloss allgemeine Hinweise bleiben, die niemanden unmittelbar angehen. Man muss die praktischen Konsequenzen aus ihnen ziehen, damit sie auch die komplexen aktuellen Situationen wirksam beeinflussen können. … Wir wissen, dass Gott das Glück seiner Kinder … auch auf dieser Erde wünscht … Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schliesst immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, … Alle Christen, auch die Hirten, sind berufen, sich um den Aufbau einer besseren Welt zu kümmern.» (Evangelii Gaudium [EG] 182f.)

Glaube, der die Erde liebt, ist ohne Einmischung nicht zu haben

Ich mache kein Geheimnis daraus, dass die Haltung von Papst Franziskus mich am meisten überzeugt. Dies aus zwei Gründen:

1. In der biblischen Rede von Gott, im Leben und in der Botschaft Jesu sind Gott und Gerechtigkeit, das Reich Gottes und die Armen, Liebe und Solidarität so eng und so konkret miteinander verknüpft, dass man sie nicht voneinander trennen kann, ohne damit sowohl die Gerechtigkeit, die Armen und die Solidarität als auch Gott, sein Reich und die Liebe zu beschädigen. Ein Glaube, der die Erde liebt und ein starkes biblisches Fundament hat, ist ohne Parteinahme und ohne Einmischung nicht zu haben.

2. Schweigen und diplomatisches Abseitsstehen sind alles andere als unpolitisch: Sie dienen letztlich den Mächtigen, den Reichen und Einflussreichen. Denn sie vermeiden es, sich die Hände an der Realität und ihren Widersprüchlichkeiten schmutzig zu machen und gehen nicht das Risiko derer ein, die sich aussetzen und sich verwundbar machen. Ich teile die Vorliebe von Papst Franziskus für eine «verbeult(e) Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist» (EG 49).

Entschiedenheit, aber ohne Unfehlbarkeitsanspruch

Gleichzeitig finde ich es richtig, dass Bischöfe und die Kirche als Institution, aber auch christliche Organisationen dann, wenn sie sich einmischen, nicht den Anspruch erheben, über «die» richtige, «die» christliche oder «die» wahre Antwort zu verfügen. Sie müssen auf eine Art kommunizieren, dass spürbar wird, dass sie es respektieren, dass andere – auch Mitglieder ihrer eigenen Organisation – im konkreten Fall andere Auffassungen vertreten. Leidenschaftliches, konkretes und entschiedenes Engagement dürfen nicht mit Unfehlbarkeitsansprüchen, Arroganz und mangelndem Respekt gegenüber jenen einhergehen, die nach sorgfältiger Prüfung zu einem anderen Schluss kommen. Zudem gilt es in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Frage so wichtig und die eigene Position so klar und abgestützt ist, dass sie wirksam vertreten werden kann. Unter diesen  Gesichtspunkten ist eine gewisse Zurückhaltung bezüglich «politischer Einmischung» der Kirchen(leitungen) berechtigt – sie verliert an Gewicht, wenn sie zu häufig erfolgt und nicht spürbar wird, dass es darum geht,  sich aus der Mitte des Evangeliums heraus zu zentralen Fragen des Lebens und Zusammenlebens zu äussern.

Aber ein mutiger, realitätsbezogener und begründeter Positionsbezug, der im Evangelium und in der kirchlichen Tradition verankert ist, hat weder mit «Frömmelei», noch mit «klerikaler Bevormundung» zu tun.

Unvermeidliche Konflikte als Ausgangspunkt neuer Prozesse

Wenn der Papst, die Bischofskonferenzen und die Bischöfe, Kirchenleitungen anderer Konfessionen, aber auch kirchliche Verbände, Hilfswerke, Ordensgemeinschaften und Parteien mit christlichem Wertefundament sich auf diese Art einmischen und dabei – um nochmals Papst Franziskus zu zitieren – «nicht vermeiden, konkret zu sein», werden unterschiedliche Sichtweisen und Positionsbezüge unvermeidbar sein. Selbst der Wunsch, man möge wenigstens nach einer «harmonischen Vielstimmigkeit» streben und «Dissonanzen» vermeiden, ist nicht immer erfüllbar.

Auch diesbezüglich ist Franziskus klar: «Der Konflikt darf nicht ignoriert und beschönigt werden. Man muss sich ihm stellen.» Nötig ist aber die «Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen. … Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten und am meisten herausforderndsten Sinn, wird zu einer Weise, Geschichte in einem lebendigen Umfeld zu schreiben, wo die Konflikte, die Spannungen und die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt» (EG 226-228).

Daniel Kosch

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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