Weniger – das neue Mehr?

Ich wollte für ein Wochenendseminar nach München und fragte meinen Neffen in München (knapp 30, erfolgreicher Jungunternehmer mit einem start-up in der Automobil-Branche), ob ich für dieses Wochenende bei ihm übernachten könne. Ich weiss nicht mehr viel vom besuchten Seminar, aber die Lebensweise meines Neffen und seiner Freundin beeindruckte mich. Es fing damit an, dass ich ein paar Tage vor meiner Ankunft eine mail bekam, dass sie an meinem Ankunftstag umziehen wollten und ich Glück hätte: die neue Wohnung läge gerade ein paar Geh-Minuten von meinem Seminarort entfernt. Erschrocken fragte ich zurück, ob ein Gast mitten im Zügeln nicht wortwörtlich im Weg stehen würde. Nein, es sei kein Problem, sie wären sicher schon in der neuen Wohnung, bis ich käme. Erst als ich dort war, verstand ich: Sie haben ihre wenigen persönlichen Sachen von einer möblierten Wohnung in die nächste transportiert, das war der ganze Umzug. Ob sie denn nicht eine eigene Kücheneinrichtung haben wolle, fragte ich die 30jährige Freundin. Lächelnd meinte sie, Besitz interessiere sie nicht, es seien ja genug Gläser und Teller und Besteck vorhanden, warum sie etwas Eigenes haben müsse? Und der Neffe, der in der Automobilbranche arbeitete, hatte auch kein Interesse, ein eigenes Auto zu besitzen. Warum auch? Wenn man ein Auto bräuchte, könne man sich auch eins leihen, zum Beispiel von den eigenen Eltern. Wenn er einmal Zeit habe, wolle er eine homepage erstellen mit Fotos seines ganzen Besitzes in zwei Kategorien: A: Brauch ich nicht mehr, kann ich verschenken und B: Brauch ich manchmal, könnt ihr aber gern zwischendurch ausleihen.

Am Seminar selbst traf ich Studierende, die ich neugierig nach ihrem Verhältnis zu Besitz befragte. Auch hier kam mir die Mentalität der «shareconomie» entgegen. Warum etwas besitzen, wenn es andere schon haben und nicht immer brauchen? Eine Studentin erzählte, dass ihre Mutter ihr gesagt habe, sie hätte keine Kraft mehr, die Zwetschgen von allen Zwetschgenbäumen im Garten zu ernten. Die Tochter habe ihr daraufhin den Vorschlag gemacht, den Garten auf eine homepage zu stellen, dass andere die Zwetschgen ernten könnten. Die Mutter war entsetzt: «Fremde Leute in meinem Garten? Das geht nicht!» Und die Tochter erklärte mir: «Ich kann sie schon verstehen, sie hat so viel gearbeitet und gespart, um ein eigenes Haus mit grossem Garten zu besitzen. Ich habe mich noch nie anstrengen müssen, um etwas zu besitzen, deshalb ist mir der Besitz auch nicht so viel wert!»

Mit diesen Aussagen liegen diese jungen Leute anscheinend im Trend. Fastenopfer und Brot für Alle greift diesen Trend auf und setzt ihn in Beziehung zur Fastenzeit, zum Verzicht auf Zeit. Es geht nicht mehr nur um den Verzicht auf Schokolade, sondern darum, «Teil des Wandels» zu sein. Die Hilfswerke versuchen, die jüngere Generation mit ihren Werten abzuholen und einzubetten in den christlichen Kontext und umgekehrt kirchlich orientierten Menschen neu zu motivieren, das Fasten auch im grösseren Kontext zu sehen.

Auch ich selbst habe in den letzten Jahren meinen Besitz reduziert. Jeder Umzug half mir, Dinge loszulassen, die ich in den Jahren zuvor nicht mehr gebraucht hatte. Seit 15 Jahren gilt für meinen Bücherschrank: Er ist voll und darf nicht voller werden. Bevor ich ein neues Buch kaufe, trenne ich mich von einem «alten» Buch – und habe bisher noch nie ein Buch, das ich weggegeben habe, vermisst.

Im März werde ich eine besondere Art des «Fastens» ausprobieren: Ich werde drei Monate in einem Kloster mitleben und habe mir vorgenommen, dort nur einmal pro Woche ins Internet zu gehen. Ich bin gespannt, ob und wie das gelingen wird!

 

Bettina Flick

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/weniger-das-neue-mehr/