«Auf beiden Seiten sind wir Opfer» – ein Interview mit Hani Abuhaikal

Zurzeit bin ich als Menschenrechtsbeobachterin mit EAPPI in Hebron.

Wir sind mit Hani Abuhaikel am Abend verabredet. Sein ältester Sohn Jamil holt uns am vereinbarten Treffpunkt ab. Schnell sind wir in ein lebhaftes Gespräch vertieft, während wir in Tel Rumeida den Berg hochsteigen. Zu meinem Erstaunen biegen wir links ab in Richtung illegale jüdische Siedlung und israelisches Militär-Camp. Hier sind eigentlich keine PalästinenserInnen erlaubt. Und auch uns wurde früher der Durchgang verboten mit dem Hinweis auf unsere EAPPI-Jacken. Zum Glück tragen wir die Jacken hier am Abend nicht, so gehen wir einfach am Checkpoint vorbei. Als wir schon ein paar Schritte in der Strasse drin sind, ruft uns ein israelischer Soldat zu sich.

Jamil geht allein zurück. Er erklärt dem Soldaten mehrfach, dass er hier wohnt, zeigt auf ein Haus am Ende der Strasse und bleibt geduldig, bis der Soldat ihn wieder gehen lässt. An uns, die wir sichtbar keine PalästinenserInnen sind, ist der Soldat heute Abend nicht interessiert. So gehen wieder weiter, rechts das Militärcamp, links die jüdischen Häuser und am Ende der Sackgasse das Haus von Hani Abuhaikel und seiner Familie.

Diese Situation, dass die Familie immer an den Soldaten vorbeigehen muss, wenn sie das Haus verlässt und auch keinen Besuch von anderen PalästinenserInnen empfangen kann, ist auch der Einstieg in unser Gespräch an diesem Abend.

Hani lacht – wie noch oft im weiteren Gespräch – und erzählt uns, was ihm am gleichen Tag an diesem Checkpoint passiert ist. Auch er war schon ohne Kontrolle durchgegangen, als er jüdische Siedler sah, die zum Soldaten gingen. Daraufhin habe der Soldat Hani zurückgerufen und seinen Ausweis verlangt. Hani habe ihm geantwortet: «Ich lebe hier in dieser Strasse, diese Menschen hier nicht, hast du auch deren Ausweise kontrolliert?» Dann habe Hani gespürt, dass der Soldat sehr unsicher war. «Er war noch so jung, fast ein Kind, und ich spürte seine Angst vor mir. So sagte ich ihm: Mach dir keine Sorgen, hier hast du meinen Ausweis.» Der Soldat habe den Ausweis erleichtert angeschaut und ihn angelächelt. Hani fährt fort: « Wisst ihr, auch er ist ein Opfer der israelischen Besatzung. Er möchte sicher nicht hier sein. Auf beiden Seiten sind wir Opfer dieser Situation.»

Hani erzählt uns, dass er alle Nachbarn in seiner Strasse freundlich grüssen würde. «Auch die jüdischen Siedler, die die Häuser deiner früheren Nachbarn übernommen haben?» fragen wir zurück. Wieder sehen wir ihn lächeln. Er fährt fort: «Ich sehe in jedem Menschen zuerst den Menschen, nicht die Religion oder die Nationalität.» Und er erzählt uns folgende Geschichte:

Vom Propheten Mohammed wird erzählt, dass er einen jüdischen Nachbarn gehabt habe. Dieser habe ihm immer Dreck vor die Haustür gelegt. Der Prophet habe den Dreck weggeräumt ohne etwas zu sagen. Als eines Tages kein Dreck vor seiner Haustür lag, sei der Prophet zum Nachbarhaus gegangen und habe gefragt: «Was ist mit meinem Nachbarn? Ist er krank?» und er habe ein Geschenk dabeigehabt. Der Nachbar fragte erstaunt: «Woher wusstest du, dass ich krank bin?» Der Prophet antwortete: «Weil kein Dreck vor meiner Tür lag. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu besuchen und dir gute Besserung zu wünschen.» Ab diesem Tag lag nie mehr Dreck vor der Haustür des Propheten.

Aber nicht immer dachte Hani so. In der ersten Intifada hatte er aktiv mitgewirkt, hatte Steine geworfen und Molotow-Cocktails, einige Male war er dafür im Gefängnis gesessen. Heute amüsiert er sich über diese Erinnerungen, es war Teil seiner Jugend. Als die Führer allerdings zur zweiten Intifada aufriefen, entschied er sich klar dagegen. Er sieht in der militärischen Gewalt keine Lösung des Konflikts. Eine pragmatische Entscheidung für Gewaltfreiheit. «Ich bin nicht mehr bereit, Gewalt anzuwenden und damit dem israelischen Staat einen Grund zu liefern, unsere Häuser zu zerstören und so viele Menschen zu töten.» Einer dritten Intifada gibt er keine Chance. «Israel ist uns militärisch doch so überlegen, wir können nur verlieren. Der Preis ist viel zu hoch. Und selbst wenn unsere politischen Führer zu Gewalt aufrufen: Wir sind keine kleinen Kinder, die ihren Eltern gehorchen müssen, wir sind selbständig denkende Menschen, die in Ruhe leben wollen. Wir brauchen neue Wege, um die Besatzung zu beenden, aber keine Gewalt. Die Häuser unserer Politiker stehen im Ausland, sie werden nicht zerbombt werden, die Söhne unserer Politiker studieren im Ausland, sie werden nicht ins Gefängnis kommen. Wir brauchen neue politische Führungspersonen, nicht immer die gleichen Gesichter und Namen.»

Was denn für ihn ein Weg sei aus der Not der Besatzung heraus, wollen wir wissen. «Es geht um eine gewaltfreie Intifada. Wir sind schon mittendrin. Wir müssen der Welt, den anderen Ländern erzählen, was hier geschieht. Der politische Druck auf Israel muss stärker werden. Deshalb führe ich internationale Delegationen durch Hebron und zeige ihnen, wie wir hier leben. Auch für interessierte Israelis biete ich Touren an. Und ich bin schon nach Europa gereist, um von unserer Situation zu erzählen. Selbst in Südafrika habe ich vor einem sehr interessierten Publikum gesprochen. Es ist wichtig, dass die finanzielle Unterstützung Israels und vor allem der jüdischen SiedlerInnen aufhört. «Siedler sein» ist ja wie ein Beruf: Sie leben hier, müssen keine Steuern zahlen und werden finanziell unterstützt. Solange es finanziell attraktiv ist, SiedlerIn zu sein, werden sie nicht aufhören, uns unser Land wegzunehmen.»

Und wie könnte die Lösung des Konflikts aussehen? Hani antwortet sehr engagiert: « Mir ist es egal, ob es eine Zwei-Staaten-Lösung geben wird oder einen einzigen Staat. Das einzige, was für mich zählt, ist, dass meine Nachbarn und ich endlich die gleichen Rechte haben, dass wir gleich behandelt werden und frei leben können!»

Ob es für Hani auch eine Option sei, sein Haus zu verlassen und damit seinen Alltag leichter zu gestalten, ohne jüdische SiedlerInnen und SoldatInnen als Nachbarn? Hani zeigt auf ein Foto an der Wohnzimmerwand: «Das war mein Vater. Er hat mit seinen eigenen Händen dieses Haus gebaut. Er hat mir gesagt, als ich klein war: Du bist Palästinenser. Das ist dein Land. – Ich werde es nie verlassen. Ich habe ein Recht, hier zu sein.»

Wir fragen Jamil, der gerade von einem Freiwilligeneinsatz von Frankreich zurückgekehrt ist, ob er es auch so empfindet. Jamil verneint: «Ich habe kein Interesse an der Politik und an der Besatzung. In Frankreich mit all den anderen internationalen Freiwilligen war es cool. Ich möchte frei sein, ausgehen können, Freunde treffen. Und ich liebe französischen Brie. Am liebsten würde ich wieder ins Ausland gehen.»

Man spürt, dass Hani stolz ist auf seinen Sohn und all die Geschichten, die er aus Frankreich mitgebracht hat. Und er bestätigt: «Ich habe allen meinen Kindern gesagt: Solange ihr in der Schule seid und noch keinen Beruf habt, seid ihr auf mich angewiesen und ich entscheide mit euch, was ihr tun werdet. Aber wenn ihr einen Beruf habt, dann seid ihr frei, euer Leben zu leben! Wenn Jamil gehen möchte, werde ich ihn nicht zurückhalten. Aber ich werde hierbleiben in meinem Haus. Hier ist meine Heimat. »

Ich wurde von HEKS-EPER und Peace Watch Switzerland als Ökumenische Begleiterin nach Palästina und Israel gesendet, wo ich am Ökumenischen Begleitprogramm (EAPPI) des Weltkirchenrates teilnehme. Die in diesem Artikel vertretene Meinung ist persönlich und deckt sich nicht zwingend mit denjenigen der Sendeorganisationen. Falls Sie Teile daraus verwenden oder den Text weitersenden möchten, kontaktieren Sie bitte zuerst Peace Watch Switzerland unter eappi@peacewatch.ch.

Bettina Flick

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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