Beduinen-Idylle und Kugeln im Kopf

Vor drei Jahren habe ich im Jordan Valley Team von EAPPI mitgearbeitet. Nun darf ich für 2 ½ Tage wieder neu eintauchen in die Realität des Jordan-Tals. Hier hat die israelische Besatzung ein anderes Gesicht als in Hebron und dementsprechend sind die Aufgaben des EAPPI-Teams auch verschieden. Wir besuchen Beduinenfamilien und gehen auch mit ihnen Schafe hüten. Der erste Tag beginnt früh, wir haben eine Stunde Autofahrt vor uns, bevor wir das kleine Beduinendorf Khirbet Samra erreichen. Wir werden schon erwartet und nach dem Begrüssungs-Kaffee wird uns ein reichhaltiges Frühstück serviert. (Brot mit Frischkäse, verschiedenen rohen Gemüsesorten und Pommes Frites). Danach geht es los, mit einer grossen Herde Schafe steigen wir den Berg hinauf. Während die Schafe friedlich weiden, haben wir Zeit, die Landschaft zu geniessen und uns zu unterhalten. Meine KollegInnen erzählen, dass es selten so friedlich bleibt wie an diesem Tag. Immer wieder kommen israelische SoldatInnen oder SiedlerInnen, die die Schäfer vertreiben wollen. Im Gebiet von Khirbet Samra hat es sowohl illegale israelische Siedlungen als auch Militär-Zentren. Deshalb sind wir mit dabei: Dass diese Kontakte friedlich bleiben. Das einzige grössere Ereignis an diesem Tag ist die Geburt eines Lämmchens. Völlig fasziniert schaue ich zu, wie das Mutterschaf das kleine Geschöpf trocken leckt. Auch der Esel kommt zu Hilfe und leckt mit. Und auch wenn das Lämmchen schon nach ein paar Minuten versucht, aufzustehen, wäre der Weg zurück doch zu weit. So packt es der Schäfer kurzerhand in die Satteltasche des Esels für den Rückweg. Das Mutterschaf weicht dem Esel nicht von der Seite, bis wir wieder im Beduinendorf angekommen sind und das Lämmchen wieder der Mutter übergeben wird.

Frohgemut verabschieden wird uns, ein zweiter Besuch steht noch an für heute. In der Nähe von Al Aqaba besuchen wir ein weiteres Beduinendorf. Wir sitzen auf Plastikstühlen zwischen den Zelten, geniessen die wunderschöne Aussicht und freuen uns an den Blumen, die die Beduinen zwischen den Zelten in Kübeln gepflanzt haben. Was der Familienvater uns dann allerdings erzählt, passt nicht zu dieser friedlichen Stimmung. Zwei Nächte zuvor wurde direkt neben dem Dorf ein militärisches Training durchgeführt, bei dem scharf geschossen wurde. Er als Erwachsener könne damit umgehen, aber seine Kinder hätten die ganze Nacht geweint und grosse Angst gehabt. Nein, sie wurden nicht vorgewarnt, dass dieses nächtliche Manöver bei ihnen stattfinden würde. Auf dem Rückweg sehen wir von der Strasse aus israelische Soldaten, die einen Hügel hinaufrobben. Es hat so viele Hügel hier, warum musste es denn ausgerechnet neben den Zelten der Beduinenfamilie sein?

Am zweiten Tag stehen weitere Besuche bei Beduinen an. Ich freue mich, dass Abu Ismael mich wiedererkennt. Wir hatten ihn vor drei Jahren mehrfach besucht. Und sein Humor tut einfach gut bei all den schwierigen Geschichten, die auch er uns erzählt. Erst ein paar Tage zuvor waren Jungs beim Schafe-Hüten in die Nähe eines Militär-Camps gekommen – und die Soldaten hatten Sound-Granaten auf die Schafe geworfen. Die Jungs seien sofort weggerannt, die Schafe seien dann den Jungs gefolgt. Es sei das zweite Mal gewesen in den letzten Wochen. Und gerade jetzt, wo die Schafe ihre Lämmer gebären, ist es doppelt schwierig, wenn die Schafe und die Schäfer so erschreckt werden. Das Team bietet an, die Schäfer das nächste Mal zu begleiten, wenn sie wieder den Weideplatz in der Nähe des Militär-Camps besuchen. Spitzbübisch lächelt Abu Ismael: «Könnt ihr denn auch schnell genug rennen?» Nun ist der Sportgeist des Teams herausgefordert und sie versprechen ihm, ihm zu beweisen, dass sie im Notfall auch rennen können.

Wir fahren weiter. Unsere Kontaktperson in Khirbet Samra, mit dessen Sohn wir am Tag zuvor auf der Weide gewesen waren, hatte angerufen und uns mitgeteilt, dass ein Kind eine Kugel im Kopf hätte. Als wir ankommen, treffen wir den Vorsteher des Dorfes. Er erzählt uns, dass ein paar Tage zuvor ein nächtliches Militärtraining stattgefunden habe. Eigentlich sei das Training weit genug weg gewesen von den Zelten des Dorfes. Und so hätten sich die Eltern auch am nächsten Tag nichts weiter dabei gedacht, als sie sahen, dass ihr dreijähriger Sohn eine kleine Wunde am Kopf hatte. Erst als es dem Buben immer schlechter ging, fuhren sie mit ihm in ein Krankenhaus. Dort wurde er geröntgt und es wurde eindeutig festgestellt, dass die Wunde nicht, wie vermutet, von einem Stein stamme, sondern dass eine Gewehrkugel im Kopf des Kindes sei. Da hat sich eine Kugel vom nächtlichen Training wohl «verirrt». Als wir mit dem Dorfvorsteher sprachen, warteten die Eltern noch darauf, mit dem Kind in ein Krankenhaus nach Israel fahren zu können, weil das palästinensische Spital sich nicht in der Lage sah, eine so komplizierte Operation vorzunehmen, um die Kugel aus dem Kopf des Kindes zu holen.

Alltag der Beduinen-Gemeinschaften: Da wird ein neues Lämmchen geboren und dort hat ein Kind eine Kugel im Kopf. Das Team in Jericho könnte noch viele weitere Geschichten erzählen von all den Begegnungen, die sie im Jordantal haben.

Ich wurde von HEKS-EPER und Peace Watch Switzerland als Ökumenische Begleiterin nach Palästina und Israel gesendet, wo ich am Ökumenischen Begleitprogramm (EAPPI) des Weltkirchenrates teilnehme. Die in diesem Artikel vertretene Meinung ist persönlich und deckt sich nicht zwingend mit denjenigen der Sendeorganisationen. Falls Sie Teile daraus verwenden oder den Text weitersenden möchten, kontaktieren Sie bitte zuerst Peace Watch Switzerland unter eappi@peacewatch.ch.

Bettina Flick

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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