London: Zwischen Postkolonialismus und Empire-Nostalgie

Nieder mit Imperialismus!

Nach zwei Monaten in London habe ich eines festgestellt: Ich lebe in einer Blase. An der School of Oriental and African Studies (SOAS) studieren Leute aus aller Welt, meine MitbewohnerInnen im Studierendenheim sind aus Pakistan, Indien, Italien, England, Japan und China. Was wir an der SOAS alle gemeinsam haben: Wir wollen unseren Horizont erweitern, wir haben genug von Eurozentrismus und diffamieren westlich-imperialistische Strukturen. In den Seminaren kritisieren wir Rawls, Habermas und Taylor, dekonstruieren Konzepte wie Moderne, Religion und Säkularisierung. Wir thematisieren Religion in der öffentlichen Sphäre und hinterfragen Liberalismus. Wir schauen uns den Israel-Palästina-Konflikt an, ohne nationalistische Narrativen zu reproduzieren, wir distanzieren uns von (exklusiv) weissem Feminismus und diskutieren über islamische Reformströmungen im 19. Jh. Nebenbei lernen wir hier Arabisch, Persisch, Urdu, Swahili, Burmesisch, Chinesisch, Pali, Sanskrit, Pahlavi, Osmanisch, Japanisch und Vietnamesisch – um nur einige der Sprachen zu nennen.

Die Students’ Union hat hier eine laute Stimme. Sie engagieren sich für eine gerechte Bezahlung des Cleaning Personals, unterstützen BDS, LGBTQI+ Rechte und rufen zu zahlreichen Protesten gegen Erhörung von Studiengebühren auf. Im Gemeinschaftsraum sind an den Wänden Zitate zu lesen wie «Death with dignity is better than life with humiliation» (Hussain, Son Alis), «omnia sunt communia» oder schlichtweg ANTIFA. Die Islamic Society sammelt hier für ihre Charity Projekte in Syrien, die Shia Society hat einen Informationsstand für die «Hussain Awareness Week», die Christian Union trifft sich zum Bibel-Studium, bei der Origami Society werden Kraniche und Füchse gefaltet, Marxisten debattieren angeregt, die Drag Society bereitet sich auf ihre bunte Jahresparty vor und andere tauschen vegane Rezepte aus – kurzum: es gibt für alles und alle eine Society!

Zu den Studierenden gehören Söhne und Töchter von DiplomatInnen, KünstlerInnen, Arbeitenden, aber auch Geflüchtete, welche ihre Familie in Syrien vermissen oder verloren haben. In Kursen wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Studierenden den Dozierenden jederzeit mitteilen können, wenn sie mit einem anderen Namen oder Pronomen angesprochen werden möchte. Bevor das Trimester begann, besuchten alle einen Workshop, in dem es um Diskriminierung aller Art, Consent und Respekt ging. Wer an der SOAS unter Stress, Angstzuständen oder anderen Lernhinderungen leidet, kann sich an die Student Advice and Wellbeing Stelle wenden. Diese organisiert spezielle Räume für Prüfungen, bietet Counselling an oder hat einfach ein offenes Ohr für die Probleme der Studierenden.

Es lebt sich an der SOAS wie in einer Blase, in der Herkunft keine Rolle spielt, die Studierenden von utopischen Weltordnungen träumen und später in die ganze Welt ausströmen. Rund die Hälfte der Studierenden kommt aus dem Ausland und das politische Klima ist (sehr bis extrem) links. In einem Versuch, den Bachelor-Studierenden nicht nur weisse, männliche Philosophen zu unterrichten, unternahm eine meiner Dozentinnen den Schritt zu einem Unterricht, der auch PhilosophInnen aus den anderen Teilen der Welt behandelt – was in der Öffentlichkeit einen Aufschrei provozierte (der Guardian berichtete).

 

Rule Britannia!

Ganz andere Erfahrungen als an der SOAS habe ich an einem Konzert in der Royal Albert Hall gemacht. Der Abend stand unter dem Motto «Classical Spectacular», ich erwartete eine Reihe klassischer Stücke, ansonsten hatte ich das Programm nicht genau angeschaut. Umso überraschter war ich, als plötzlich das ganze Publikum kleine Union Jacks in der Hand hielt und zu «Pomp and Circumstance» begeistert die Fähnchen schwenkten. Bei «Rule Britannia» sangen alle lauthals mit, eine riesige Flagge Grossbritanniens wurde heruntergelassen und die Solistin trug ein Kleid im Muster des Union Jack. Zu einigen Stücken marschierten Soldaten in Kostümen aus dem 18. Jh. übers Parkett und zum Finale wurden Kanonen abgefeuert – und Union Jacks an die Wände des Konzertsaals projiziert.

In der Begeisterung des Publikums über die Darbietung war eine gewisse Nostalgie zu verspüren. Eine Nostalgie nach dem Empire – damals, als Grossbritannien die Weltmacht war und in der internationalen Politik das Sagen hatte. Eine Zeit aus der Geschichte Grossbritanniens, die an der SOAS mit Naserümpfen und viel Kritik betrachtet wird. Eine Zeit der imperialistischen Grossmächte, welche die meisten Länder dieser Welt bis heute geprägt haben – und zwar nicht im positiven Sinne.

Genau solche Gegensätze machen London wohl aus. Obwohl ich in der Brick Lane ein männliches Paar händchenhaltend spazieren sehe, meine Busfahrerin ein Kopftuch trägt, ich orthodoxen jüdischen Familien in Waitrose (Standard-Supermarkt) in der koscheren Abteilung begegne und das Aussehen oder der Familienname nicht die Frage «Woher kommst du?» auslöst, weiss ich trotzdem, dass Homophobie, Islamophobie, Antisemitismus und Rassismus hier eine Realität sind. Trotzdem herrscht hier ein Klima der grösseren Freiheit, selbst wenn die Realität des beschlossenen Brexit dieses Gefühl wieder einschränkt…

Celia Gomez

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/london-zwischen-postkolonialismus-und-empire-nostalgie/