Poesie und Politik am Locarno Festival

Der meist diskutierte Film auf dem Festival ist das dokumentarische Porträt «The Poetess» von Stefanie Brockhaus und Andreas Wolff. Sie zeigen die saudische Dichterin Hissa Hilal, deren Haltung zu Gesellschaft und Kultur in ihrem Heimatland. Die Verhüllung der Frau ist dabei nur ein Nebenschauplatz. Es geht um viel mehr.

Der Auftritt der Protagonistin Hissa Hilal im Tessin ist ein Politikum. Gilt doch in diesem Kanton bereits das berüchtigte «Burkaverbot». An der Weltpremiere des Films in der «Semaine de la critique» am 8. August 2017 gab es politische Kontroversen, die jedoch weit am Anliegen des Films und dem Engagment der Poetin vorbeizielten. Hissa Hilal bat bei ihrem Auftritt in Locarno um den Verzicht auf Fotos, da sie ihre Verhüllung ablegte und nur ein einfaches Kopftuch trug. Dabei geht es nicht nur um den Schutz ihrer Privatsphäre, sondern auch um den Schutz von Leib und Leben, wie der Film «The Poetess» nachhaltig vor Augen führte.

Mit Poesie gegen moralische Normen

Das Bild in diesem Blogeitrag zeigt Hissa Hilal im Niqab, dem Kopftuch, das die klare Sicht der Augen erlaubt. (Es handelt sich also nicht um eine Burka!) Zudem trägt sie die Abaya, einen schwarzen Umhang, der zum verpflichtenden Dresscode für Frauen in Saudi Arabien gehört. In diesem Aufzug präsentierte sich Frau Hilal im Abu Dhabi TV an einer Talent-Show für Dichter. Diese Sendung ist genauso populär wie Casting-Shows in Westeuropa und zieht Millionen von Zuschauern an.

Ihr Auftritt war einerseits ein starkes Signal an die saudische Gesellschaft, dass die Gabe der Poesie nicht nur Männern gewährt wurde. Und es war auch eine grosse Bühne für die Anliegen der engagierten Schriftstellerin. Seitdem sie in der Show ein Gedicht gegen restriktive Fatwas vorgetragen hat und diese als «Monster» bezeichnete, erhält sie Morddrohungen.

Frauen sind die Seele der Gesellschaft

Der Porträtfilm steht und fällt mit der Hauptfigur. Mit Hissa Hilal haben die Filmeschaffenden eine starke Persönlichkeit gefunden. Ihre Augen drücken Leid, Wut aber auch Witz und Lebenslust aus. Ihr Gesicht bleibt während des ganzen Films bedeckt, doch ihre Sprache ist eloquent und ihr Charisma spürbar.

«Frauen sind die Seele der Gesellschaft», sagt Hilal mit Überzeugung in die Kamera. Und wenn man Frauen isoliere wie in Saudi Arabien, zerstöre das die Gesellschaft. Sie kämpft deshalb gegen den moralischen Rigorismus in ihrem Land. Mit ihren Gedichten hat sie ein Tabu gebrochen und eine öffentliche Diskussion ausgelöst.

Gegen ideologischen Rigorismus

Beim Schauen dieses Films wird einem schmerzlich bewusst, wie begrenzt und naiv die Diskussion über das Verhüllungsverbot in der Schweiz geführt wird. Es geht vielmehr um ein gemeinsames Anliegen: das Einstehen für die Rechte von Frauen und Männern, sei es in Saudi Arabien oder der Schweiz. Der Dokumentarfilm zeigt auf, dass es dabei vor allem um patriarchale Machtstrukturen geht, die in Saudi Arabien zu einer Gesellschaftsnorm erstarrt sind. Es gibt viele Menschen in diesem Land, die gegen den ideologischen Rigorismus kämpfen wollen. Desselbe sollten wir auch in der Schweiz tun.

Zum Werk von Hissa Hilal (Wikipedia Englisch)

Webseite der Semaine de la critique am Festival Locarno

Charles Martig

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/peosie-und-politik-am-locarno-festival/