Liebeserklärung an Mutter und Vater

Am Filmfestival Locarno hat das Programm der Piazza Grande vielversprechend begonnen. Auffallend ist der starke Fokus auf Familienkonstellationen. Die französische Regisseurin Noémie Lvovsky erzählt von einer ungewöhnlichen Mutter-Tochter-Geschichte. Und Fanny Ardant spielt in «Lola Pater» die melodramatische Rolle einer algerischstämmigen Transexuellen, die ihren/seinen Sohn nach mehr als 20 Jahren wieder trifft.

Als Eröffnungsfilm auf der Piazza Grande überzeugt «Demain et tous les autres jours» der Französin Noémie Lvovsky. Sie erzählt von einem Scheidungskind. Mathilde ist neun und lebt allein mit ihrer Mutter  in einer Stadtwohnung von Paris. Bereits beim ersten Elterngespräch in der Schule hinterlässt die Mutter einen zwiespältigen Eindruck: ein fragiles Wesen an der Grenze zum Wahnsinn.

In dieser Konstellation greift Mathilde zu ihren eigenen Mitteln des Widerstands: Sie erlebt die Welt als belebt. Ein Kauz, den ihr die Mutter schenkt, beginnt mit ihr im Zimmer zu sprechen. Das lindert die Einsamkeit und die Verzweiflung des Mädchens. Denn die Mutter verschwindet immer wieder für unbestimmte Zeit aus der Wohnung und lässt Mathilde allein. Mit dem getrennt lebenden Vater hat das Mächen nur über Internet-Telefonie einen Kontakt.

Vom Sozialdrama zum Märchen

Was auf den ersten Blick wie ein sozialrealistisches Drama wirkt, bekommt durch die Erzählweise von Lvovsky, die selbst die Hauptrolle verkörpert, immer mehr märchenhafte Züge. Konsequent erzählt sie die Geschickte aus dem Blickwinkel des Mädchens. Sowohl in der Schule, als auch zuhause wirkt Mathilde ideenreich und kann ihre Kräfte immer wieder neu mobilisieren, um die unerträglichen Momente zu überstehen. Sie imaginiert sogar eine Geschichte einer verirrten Ur-Grossmutter im Wald, die ihr Kind in einem grossen dunklen Teich verloren hat; eine dunkle Vision des seelischen Leidens.

«Demain et tous les autres jours» ist eine Liebeserklärung an die Mutter, die mit all ihren Schwächen und ihrem Hang zur Depression ihr bestes tut, um in ihre Umwelt zu passen. Und sie scheitert trotz allem. Doch dieses Scheitern ist in einem liebenden Blick aufgefangen und in einer märchenhaften Erzählung.

Starke «Familien-Filme»

Auffallend ist das Thema «Familie» im Programm des Locarno Festivals stark vertreten. Auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag «Freiheit» bezieht sich auf den Ausbruch einer Frau aus der Enge des Familien- und Berufsalltags. Und auch «Lola Pater», der von der Versöhnung eines transexuellen Vaters mit seinem Sohn erzählt, geht von Familienbeziehungen aus, die kompliziert und leidvoll sind. Während «Freiheit» auf dem Vorrang des Individuums in seinem Freiheitsdrang insistiert, öffnet «Lola Pater» den Blick für eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn.

Webseite des Locarno Festival

Charles Martig

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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