Vera Rüttimann

Meditation über die Leere auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof

Auf einem weissen Markierungstreifen im Asphalt steht eine brennende Kerze. Tapfer kämpft sie gegen den schneidenden Wind an. Sie steht mitten auf dem Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof im Westteil Berlins. Der Boden, auf dem sie flackert, ist geschichtsträchtig: Dieser Flughafen war Landeplatz der Zeppeline, Militärbastion im Dritten Reich und Luftbrücke der Alliierten im Kalten Krieg. Ich bin dankbar, dass ich hier noch abheben konnte, als dieser Flughafen noch voll in Betrieb war. Sei es per Rosinenbomber auf einem Oldtimer-Flug oder schlicht mit einem Airbus nach Brüssel.

Seit einigen Jahren ist das 360 Hektar grosse Gelände dieses ehemaligen Flughafens offen für die Bürger. Ausser dem Centralpark in New York gibt es flächenmässig nirgendwo sonst einen Ort solchen Ausmasses mitten in einer City. Unter den Flaneuren, urbanen Stadtgärtnern und Drachenfliegern, die sich auf der «Tempelhofer Freiheit» treffen, wie das einstige Flugfeld heute heisst, sind auch Menschen zu finden, die hier etwas ganz anders suchen als Fun: Ich treffe mich an diesem Nachmittag mit Berlinern, die hier einfach still werden wollen. Meditieren auf dem Rollfeld?

Bei mir stellt sich spirituelle Erfahrung bereits durch die unfassbare Leere dieses ehemaligen Flughafens ein. Ein Ort, an dem es ausser den Hangars kaum etwas gibt. Vor allem im Winter gibt es hier kein johlendes Partyvolk und keine lärmende Musik. Autos schon gar nicht. Für viele ist das ein wahrer Luxus. Gerade in dieser vorweihnachtlichen Stresszeit mit ihrer visuellen Überreizung. Es ist diese irritierende Weite, die mich immer wieder inspiriert. Nachgedacht wird heute über das Wort «Leerlauf». Für mich heisst es: Aus dem Zwang zur Produktivität aussteigen, sich innerlich leer machen für neues. Buchstäblich leer werden.

Beim Gehen über das Rollfeld sinniere ich auch darüber nach, was man mit dem ehemaligen Flughafen-Areal alles anstellen könnte: Bäume pflanzen, einen grossen Teich anlegen oder doch Luxus-Lofts für gutbetuchte Neuberliner bauen? Die «Leerläufer» träumen von einem Treffpunkt für Religion und Gesellschaft. Ein neues interreligiöses Zentrum soll hier entstehen, das zur spirituellen Suche einlädt. Ein Schnittstellen-Ort, wo Religion und urbane Lebensformen aufeinander treffen. Viele hoffen, dass der Berliner «Centralpark» in seiner jetzigen Form erhalten bleibt. Es muss Räume geben, die einfach nur dafür da sind, dass Stadtbewohner anders und freier atmen können.

Beim verlassen des ehemaligen «Zentralflughafens» grüsst zum Schluss streng der grosse Reichsadlerkopf am Eingang. Die Spuren der Geschichte, sie sind noch immer da. Alles hier ist noch unfertig, kantig und wunderbar leer.

Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof.  Vera Rüttimann 2016
9. Dezember 2016 | 04:06
von Vera Rüttimann
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!