Ilene (in der MItte (mit Enos aus Südarfike aund Eva aus Schweden)
Bettina Flick

Ilene – als amerikanische Jüdin im Einsatz für Menschenrechte in Palästina

Ilene war eine der ersten Kolleginnen, die ich in der Einführung in Jerusalem kennengelernt habe. Und sie machte mich neugierig: Wie kommt eine amerikanische Jüdin dazu, einen Freiwilligendienst als Menschenrechtsbeobachterin in den besetzten palästinensischen Gebieten zu machen? Ich habe sie befragt. (Auf dem Foto oben ist Ilene in der Mitte neben Enos aus Südafrika und Eva aus Schweden)

Ilene, danke, dass du für dieses Interview bereit bist. Kannst du mir zuerst ein wenig von deinem familiären Hintergrund erzählen?
Ich wurde 1949 in New York geboren. Meine Eltern waren sehr aktiv in der Synagoge und Israel war von zentraler Bedeutung für sie. Auch während meiner hebräischen Schulbildung waren Israel und der Holocaust sehr wichtig . Der 6-Tage-Krieg war für mich traumatisch, ich war 18 zu dieser Zeit und «die Araber» waren nur Feinde für mich. Dennoch glaubte ich damals den Erklärungen der israelischen Regierung, dass sie «überallhin gehen und mit allen sprechen würden. und dass alles verhandelbar sei». Also nahm ich zu Beginn an, dass die Situation vorübergehend sei.

Heute setzt du dich ein für die Rechte der PalästinenserInnen. Wie kam es zu diesem Wandel?
Als Studentin hörte ich Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger das erste Mal junge Israelis und PalästinenserInnen über Palästina sprechen. Das machte für mich Sinn, ich glaubte an solch eine Lösung für beide Völker.
1977 übernahm der rechte Flügel in Israel die Regierung. Als ich in dieser Zeit von den 7.000 Siedlern in der Westbank hörte, war ich überrascht. Warum gab es dort Siedlungen, wenn es doch angedacht war, dieses Gebiet später zurückzugeben? Ich dachte, es sei ein Problem des rechten Flügels und hoffte, dass der säkulare Teil Israels den Siedlungsbau stoppen würde –  aber stattdessen wuchsen sie weiter. Das Siedlungsprojekt gehörte zur ganzen israelischen Regierung.

Was denkst du über die Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten?
Die Besatzung existiert zur Sicherheit der Siedlungen, weil sie sich in Palästina, also in feindlichem Gebiet befinden. Ohne die Siedlungen gäbe es keinen Grund für die militärische Besatzung. Sie sind nach dem internationalen Völkerrecht illegal, die Vierte Genfer Konvention besagt, dass man ZivilistInnen nicht in ein besetztes Gebiet umsiedeln kann.
Die beunruhigende Vorstellung von Demokratie in Israel ist: Die Mehrheit hat das Recht, die Minderheit zu unterdrücken. Und wenn ich darüber nachdenke, fühle ich Verzweiflung und Wut: diese schreckliche Sache wird im jüdischem Namen getan, es geschieht in meinem Namen. Netanyahu spricht im Namen des jüdischen Volkes. Aber er spricht nicht in meinem Namen!

Du bist als religiöses Kind in einer religiösen jüdischen Familie aufgewachsen. Wie ist heute deine Beziehung zu deiner Religion?
Während meines ganzen Lebens war meine Religion sehr wichtig für mich. Ich ging jede Woche in die Synagoge. Ich habe meine Kinder jüdisch erzogen. Aber es wurde immer schwieriger für mich, mich damit zu identifizieren. Selbst die reformierte jüdische Bewegung in den USA wurde nach der zweiten Intifida zu einer Unterstützerin der israelischen offiziellen Politik. Hohe Feiertage waren Zeiten der Selbstreflexion für mich, Zeit, Vergebung zu suchen. Stattdessen sah ich Unterstützung für Unterdrückung und Tod. Lange Zeit erhob ich meine Stimme gegen Siedlungen und Besatzung. 2007 bin ich gegangen, ich hatte die Diskussionen einfach satt. Ich war damals Ende 50. Jetzt gehöre ich nicht mehr dazu. Ich gehe nicht mehr in die Synagoge und feiere die Festtage nicht mehr. Ich bereue es nicht, auch wenn ich eine Gemeinschaft verloren habe, die früher sehr wichtig für mich gewesen ist. Wer weiss: Wenn die Besatzung endet, werde ich vielleicht wieder Pessah feiern.

Wie kamst du zu EAPPI?
Seit Anfang 2000 schreibe ich an eine E-Mail-Liste über die Situation in Israel und Palästina, um meine FreundInnen zu informieren. Mein Wissen und meine eigene Meinung über die Situation sind in dieser Zeit gewachsen. Nun, als Rentnerin, dachte ich, dass ich vielleicht auch aktiv etwas tun könnte.
Im vergangenen Frühjahr habe ich meine Tochter in Israel besucht, die hier als Aktivistin in einer NGO für Palästina arbeitet. Ich fragte sie: Kann ich nicht etwas ganz Konkretes tun, statt nur über den Konflikt zu schreiben? Meine Tochter erzählte mir daraufhin von EAPPI.

Was ist die grösste Herausforderung, der du in deiner Arbeit als EA begegnest?
Mit der schrecklichen Realität der Menschen zurechtzukommen, die unter der Besatzung leben. Ich finde es sehr schwierig und deprimierend. Ich war nicht darauf vorbereitet, dies zu sehen. Kein Berg von Büchern kann dir sagen, wie es sich anfühlt, mit diesen Leuten zusammenzusitzen und ihre Geschichte zu hören. Z. B. eine Frau in den South Hebron Hills zu besuchen, die allein mit ihren sieben Kindern lebt, weit entfernt vom nächsten Dorf und israelische Siedler fahren mit ihrem Motorrad um ihr Haus, um sie und die Kinder einzuschüchtern und die Tiere nervös zu machen.
Es berührt mich, dass die PalästinenserInnen, die ich bei meiner Arbeit treffe, niemals solchen Hass ausdrücken, wie ich ihn so oft von Israelis höre. Sie reden über ihre Hoffnung und wollen in Frieden leben, auch mit den Jüdinnen und Juden.

Hast du den Eindruck, dass unsere Arbeit Auswirkungen hat?
Schwierige Frage! Es scheint den Leuten, mit denen wir arbeiten, etwas zu bedeuten, dass wir da sind. Wenn es ihnen wichtig ist, dann ist es richtig, dass wir da sind. Ich glaube auch, dass unser Zeugnis sehr wichtig ist. Als Jüdin habe ich in Bezug auf den Holocaust gelernt, dass das Bezeugen und Dokumentieren wirklich wichtig ist. Ich sehe es seit langem auch für Palästina als wichtig an. Das ist eine grosse und bedeutende Aufgabe: zu dokumentieren und die Geschichten zu erzählen. Ich glaube, dass eines Tages Juden und Jüdinnen sagen werden: «Das haben wir nicht gewusst.» Und wir werden ihnen antworten: «Doch, ihr habt es gewusst!» EAPPI ist Teil des wichtigen Zeugenprozesses.

Ist es schwierig für dich, gerade jetzt, nach Trumps Jerusalem-Ankündigung hier zu sein als Amerikanerin und Jüdin?

Es ist zu einem «running gag» geworden, wenn ich Leuten sage, dass ich aus der USA bin. Sie schauen mich mit einem Lächeln an und sagen: «TRUMP – aber wir klagen dich nicht an!». Ich antworte mit meinen wenigen Worten, die ich auf Arabisch kann: «Trump LA! NEIN zu Trump!».

Als Amerikanerin fühle ich mich ok hier, ich bin Teil des Widerstands gegen Trump – eines riesigen Widerstands!

Aber bezüglich meiner Identität als Jüdin ist es schwieriger. Viele von uns scheinen unsere moralische Grundlage verloren zu haben. Den Holocaust immer wieder zu zitieren und Menschen als antisemitisch zu verurteilen, das verhindert einen kritischen Blick auf Israel. Das ist ein grosser Fehler. Ich frage mich: Ist der Siedler der neue Jude? Ist es das, was von unserer Religion, unserem Volk überlebt hat?

Vielen Dank, liebe Ilene, für das Interview und für deinen Einsatz, dein Zeugin-Sein in dieser schwierigen Situation!

Ich wurde von HEKS-EPER und Peace Watch Switzerland als Ökumenische Begleiterin nach Palästina und Israel gesendet, wo ich am Ökumenischen Begleitprogramm (EAPPI) des Weltkirchenrates teilnehme. Die in diesem Artikel vertretene Meinung ist persönlich und deckt sich nicht zwingend mit denjenigen der Sendeorganisationen. Falls Sie Teile daraus verwenden oder den Text weitersenden möchten, kontaktieren Sie bitte zuerst Peace Watch Switzerland unter eappi@peacewatch.ch.

 

Bildquellen

  • Ilene (in der MItte (mit Enos aus Südarfike aund Eva aus Schweden) | © Bettina Flick: Bildrechte beim Autor
Ilene (in der MItte (mit Enos aus Südarfike aund Eva aus Schweden) | © Bettina Flick
3. Januar 2018 | 14:36
von Bettina Flick
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