Nächtliche Impression in Ohrid, Mazedonien
Gian Rudin

Gedanken zur Nacht

«Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.» (Novalis, Hymnen an die Nacht)

Mondscheinwein. Ein Glas Wein in sternendurchfluteter Nacht, den Blick wehmütig auf die Leuchtkraft des Mondes gerichtet. Tiefe Zwerchfellatmung. Das ist eine Form von Romantik fernab allzu oft wiedergekäuter Klischees, die so manchem nur ein müdes Lächeln entlocken. Bei Novalis war eine Romatiker jemand, der im Stande ist das Allergewöhnlichste und Allerbanalste zu verklären. Ein Magier des Alltags, der in allem unentdeckte Tiefendimensionen zu erblicken vermag. Zugegebenermassen ist es in einer an Effizienz und Maximalität orientierten Gesellschaft nicht einfach diese Urform des romantischen Bewusstseins zu verinnerlichen, ohne in der Kategorie des tagträumenden Taugenichts eingeordnet zu werden. Deshalb wohl auch die Hinwendung des Romantikers zu der Undruchdringlichkeit des nächtlichen Glanzes. Die Nacht offenbart die Ambivalenz der Existenz, jenes Auf und Ab, welches das dynamische Forwärtsdrängen des Lebens bedingt. So waren denn die Hymnen an die Nacht ursprünglich als ein «Tractat vom Lichte» angedacht, wie aus der Korrespondenz zwischen Novalis und Friedrich Schlegel hervorgeht. So strahlt denn das reine, ungetrübte Tageslicht, Signum einer rationalistischen Verengung des Menschenherzen, nur durch den Kontrast zur Nacht. Novalis redet hier aber nicht einem weltanschaulichen Dualismus das Wort, so als ob das Gute nur durch die Gegenbewegung des Bösen zu seiner vollen Geltung gelange. Integration ist wohl das Schlüsselwort. Das Widerspenstige und Unscheinbare, das Schattenhafte und Zwielichtige kann gewandelt werden und in neuem Licht erstrahlen. Man bedenke: Transsubstantiation meint die Verwandlung von ungesäuertem, nährstoffarmem Brot in Lebenselexier, denn wer dies Brot isset, der wird leben in Ewigkeit (Johannes 6, 58). Die Mission Jesu Christi ist integrativ und auf Partizipation angelegt. Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen (Johannes 12:32). Sowohl die öde Durchschnittsmonotonie der alltäglichen Tretmühlen, als auch die negative Abgründigkeit des Boshaften werden durch das Osterlicht Gottes durchformt. Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein (Lukas 23, 43). Diese Worte spricht Jesus nun aber nicht liegend in der Bekömmlichkeit eines üppigen römischen Mahles, sondern am Kreuze hängend, im Angesicht des Schauderns vor dem herannahmenden Tode. Ganz in diesem Bewusstsein verknüpft nun auch Novalis in seinen Hymnen die Unerforschlichkeit der Nacht mit der Todeserfahrung:

«Gelobt sey uns die ewige Nacht, Gelobt der ewge Schlummer […] Die Vorzeit, wo in Jugendblut Gott selbst sich kundgegeben und frühem Tod in Liebesmuth geweiht sein süsses Leben […] Ein Traum bricht unsre Banden los und senkt uns in des Vaters Schooß

Die Nacht als Chiffre der menschlichen Endlichkeit. Doch gerade die Sterblichkeit des Leibes bildet die Pforte in ein neues und unverwüstbares Leben. Das menschliche Biographie entfaltet sich oftmals im Durchleben von Widersprüchen, um so zu einer ausgewogeneren Reife zu gelangen. Der christliche Glaube in seiner lehramtlichen Gestalt weiss um diesen Sachverhalt wohl Bescheid, obwohl ihm des Öfteren unzeitgemässe Phrasendrescherei angelastet wird. So ist das auf dem Konzil von Chalcedon 451 begrifflich fixierte christologische Dogma mit dem gottmenschlichen Personengeheimnis Jesu Christi ein luzider Ausdruck dafür, dass die Erlösung des Menschen nicht ein selbstherrlicher Akt Gottes ist, sondern eine integrative Bewegung, die den Menschen in seiner Gebrechlichkeit in den Heilsplan miteinbezieht. Ecce homo. Oder mit den Worten Martin Luthers: «Also der todt der vorhyn ain straff der sünd was, der ist yetzund ain artzeney der sünd.» Indem wir unseren Blick auf die Nacht lenken, schaffen wir Raum für ungeklärten Fragen in unseren Leben. Geduld ist eine hervorragende Tugend. Geduldig sollten wir die Hartnäckigkeit des Paradoxen auf uns wirken lassen. Getrost können wir dabei auf die christliche Glaubensverkündigung blicken, welche den Menschen keine fixfertigen Happen vorsetzt, sondern ihnen das Geheimnis nicht nur zu ertragen, sondern zu lieben lehrt. Lasst uns immer tiefer hineinverwurzelt werden in die Rätselhaftigkeit unseres Daseins, emporblickend zum Mysterium des Mondes.

Nächtliche Impression in Ohrid, Mazedonien | © Rudin, Gian
25. August 2016 | 05:56
von Gian Rudin
Lesezeit: ca. 2 Min.
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