Heinz Angehrn

Gedanken auf der Alp

Das ist der Ort, die Zeit und die Gelegenheit zur Reflexion. Im technisch eingerichteten Haus im Tal unten warten zuviel Infos via TV, Teletext und Compi. Hier oben fernab von all dem, zudem mit der Abmachung verbunden, nur zweimal pro Tag auf das stummgeschaltete Blödgerät zu spähen, kann ich sogar einigermassen verstehen, was uns allen zurzeit «geschieht».

  1. Da ist einmal die «erzwungene Entschleunigung». Wie viel haben gerade wir Kirchenleute in den vergangenen Jahrzehnten von der Notwendigkeit gesprochen und philosophiert, dass unsere immer technisch schneller werdende Welt der Entschleunigung bedarf. Wie haben wir mit gewissem Neid auf die kleine Gruppe Menschen geschaut, die sich angesichts dieser Herausforderung ernsthaft mit Zen und/oder den grossen ignatianischen Exerzitien beschäftigten oder sich auf den ganzen Jakobsweg en bloc begaben. Doch immer wieder war dies mit dem Gedanken verbunden, dass dies eben «nichts für uns», nichts für den/die normalen Alltagsbürger/in (den/die normale/n Alltagssseelsorger/in), sei, dass wir kleine spirituelle Brötchen zu backen hatten, sprich Exerzitien im Alltag, Zen en miniature oder den Jakobsweg aufgestückelt in viele kurze Etappen. Und nun zwingt uns ein Virus eine gesamtgesellschaftliche Entschleunigung auf, werden wir als Einzelpersonen, als Paare, als Familien auf uns zurückgeworfen. Man erlaube mir die Bosheit zu formulieren, dass das Leben genug Geduld mit der Menschheit hatte, selber zu begreifen, welchen Irrweg sie da eingeschlagen hat und nun mangels Einsicht eben zur biologischen Bremse griff. Dass die auch Menschenleben kostet, ist in der Logik der Evolution inbegriffen.

  2. Da ist zum andren der Abschied von der «totalen Globalisierung». Wir Menschen des Westens (ohne zu beachten, wie viele Opfer dieser Lebensstil im Süden und bei Mutter Natur, Fauna und Flora, forderte) waren doch begeistert, dass wir immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort, wenn nur gerade genügend Geld zur Verfügung stand, konsumieren, reisen, fliegen, jetten, «kreuzfahren», festen, «heliskiien» etc. etc. konnten. Wir Vertreter der Generation jenseits der Fünfzig waren doch auch irgendwie überzeugt, dass erst nach unserem Ableben die jetzt junge Generation die Folgen und Sünden des ökologischen Raubbaus, den wir da betreiben, ausbaden und ertragen müssen. «Après nous le déluge» – nicht wahr? Und so zogen wir Generationen junger, konsumsüchtiger, gedankenloser und gnadenlos individualistischer Menschen heran, die am liebsten en masse soffen, lärmten und krawallten. Und wie in jüngster Zeit eine Minderheit in der Nachfolge von Greta zur Einsicht kam, da wurde sie von uns verspottet oder missbilligt. Und nun sind wir, die Alten und die Jungen, mal gründlich auf die Nase gefallen. Kein Open-Air, keine Luxus-Kreuzfahrten, keine Champions League, keine Street Parade. Ich danke Covid 19 von ganzem Herzen.

26. März 2020 | 11:31
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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Ein Gedanke zu „Gedanken auf der Alp

  • karl stadler sagt:

    Nein, Herr Angehrn, verdammt nochmal! Sie halten Buss-Predigt!! Ich gebe Ihnen gewiss recht: Ein wenig Entschleunigung tut not. Ein bisschen weniger Flugverkehr bedeutet tendenziell Entlastung für Klima und Umwelt. Ein bisschen weniger Wohlstand täte uns allen gut und würde ebenfalls der ökologischen Entlastug dienen. Aber es ist eine in keiner Weise belegte Behauptung, dass da junge Generationen nachwachsen, die übewiegend nur aus jungen, konsumsüchtigen, gedankenlosen und gnadenlos individualistischen Menschen bestehen. Und keineswegs sind wir aufgrund dieses Virus “auf die Nase gefallen.” Ja, die Epidemie überfiel den ganzen Globus, breitete sich aufgrund der technologisch hoch entwickelten globalisierten Gesellschaft rasend schnell rund um den Erdball aus, erschütterte innert weniger Wochen die gesamte Weltwirtschaft, und zwar vom Osten bis in den Westen. Aber das ist ein Naturphänomen wie viele andere Erscheinungen und Prozesse auch. Das hat prioritär weder mit unserer gestressten Lebensweise noch hat die Epidemie direkt etwas mit dem Westen zu tun. Vor hundert Jahren, zu einer Zeit, als die Welt bei weitem nicht den Grad an Globalisierung von heute erreicht hatte, raffte die Spansiche Grippe innert eines Jahres mehr Menschen dahin als der gesamte erste Weltkrieg. Laut Schätzungen gab es zwischen 20 und 50 Millionen Opfer. Im Mittelalter, zu Zeiten, als der Grossteil der Menschen schauen musste, wie sie über die Runden kamen, Begriffe wie “Konsumsucht”, “jetten”, “kreuzfahren” “entschleunigen” schlicht unbekannt waren, entvölkerte die Pest in Europa, aber auch anderswo, halbwegs ganze Landstriche. Eine Epidemie mag sich aufgrund der Globalisierung, der modernen Verkehrsmittel, der weltweiten regen Reisetätigkeit, viel rasanter ausbreiten und zur Pandemie entwickeln als früher. Aber die Entstehung einer Epidimie als solcher hat vorerst kaum etwas mit dem Konsumverhalten der Menschen zu tun. Vielmehr mit Wissen um die Entstehungsmöglichkeiten, mit Hygieneverhalten etc.
    Ihr heutiger Beitrag kommt mir vor wie eine “Strafpredigt Gottes”. Dass wir als Gesellschaft, und zwar weltweit, keineswegs nur im wirtschaftlichen Einflussbereich des Westens, das Leben ein wenig entschleunigt angehen sollten, dass Wohlstand nicht auf Kosten der Umwelt angestrebt werden darf, ist mittlerweile schon längstens den allermeisten Menschen bekannt. Und dies weiss Gott nicht erst seit dem Greta-Effekt!
    Ein Stück weit ist doch die gesamte Menschheit in diese Umweltsackgasse hineingeraten, obwohl dies wahrscheinlich niemand wollte. Ich glaube auch nicht, dass es ganze Generationen gibt, die bewusst nach dem Grundsatz “nach uns die Sintflut” leben. Bereits aufgrund anthropologischer Gegebenheiten kann dies nicht so sein. Aber dass wir alle verstrickt sind in diese riesige komplexe Problematik, da gebe ich Ihnen sofort recht. Als Beispiele möge folgender Umstand dienen: Wenn ich in ein Häuschen in den Bergen gehe – wo ich mich derzeit übrigens aufhalte – zuerst mit dem ÖV und anschliessend während zwei Stunden zu Fuss einen Aufstieg bewältige – diesmal bin ich allerdings mit dem auto gegangen, soweit ich konnte, ich steige zu diesen Zeiten in keinen Zug – nehme ich am liebsten einen Rucksack mit Proviant mit, der nicht allzu schwer ist. Da eignet sich eine gute Päckli-Suppe sehr wohl als Verpfegungsbestandteil. Aber was ist praktisch in fast jeder Päckli-Suppe enthalten: Palmöl! Was das bedeutet, wissen alle bestens. Oder während ich diesen Kommentar schreibe und per Internet übermittle, kommt mir ein Beitrag in den Sinn, den ich vor nicht allzu langer Zeit in der NZZ gelesen habe: Das Internet, von dem praktisch alle, privat und beruflich, regen Gebrauch machen, ist erst gut zwanzig Jahre alt. Wenn vielleicht nicht hier in Europa, aber weltweit gesehen, speist sich der Internet-Verkehr aus Energiequellen, die mehr klimaschädliche Emissionen verursachen als der gesamte weltweite Flugverkehr, und zwar nicht zu Corona-Zeiten, sondern im Vollbetrieb. Man stelle sich dies einmal vor! Daraus ist doch leicht ersichtlich, wie wir alle, unabhängig wo wir leben, welchen Alters wir sind oder wie wir denken, in diese weltweiten komplexen Probleme verstrickt sind.
    Gewiss würde es uns sehr wohl gut tun, ab und zu besinnlich in Sack und Asche zu gehen. Dennoch bin ich allergisch auf Buss-Predigten.

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