Markus Baumgartner

Erstmals ruft von der Kathedrale eine Wächterin

Premiere: In Lausanne wacht erstmals seit über 600 Jahren eine Frau nachts über die Stadt. Die 27-jährige Cassandre Berdoz ist die erste Wächterin in der Lausanner Stadtgeschichte, die vom Turm der Kathedrale die Stunden ruft. Sie braucht dafür ein starkes Stimmorgan und erfüllt mit ihrem Engagement auch eine Forderung der Frauenbewegung.

Die Kathedrale in Lausanne kann man nicht übersehen. Als herausragendes Bauwerk der Stadt steht sie weithin sichtbar auf einem Hügel, schreibt die «Berliner Zeitung». Seit 1405 ruft der «Guet» (Nachtwächter) vom Turm des gotischen Bauwerks zu jeder Stunde die Zeit aus. Die Stelle entstand einst aus Brandschutzgründen: In der Stadt hatte gerade erst ein heftiges Feuer gewütet. Um eine Wiederholung zu verhindern, erliess Bischof Guillaume de Menthonnay neue Verordnungen zur Verhinderung von Bränden. Auf die Stadt verteilt wurden Aussichtspunkte besetzt, von denen herab Wächter nach Rauch Ausschau hielten und im Notfall riefen und läuteten.  

An 365 Tagen im Jahr

«Es ist an der Zeit, die erste Wächterin einzustellen!», verkündete die Stadt Lausanne, die als Vorreiterin in Sachen Gleichstellung gilt. So trat die allererste «Guette» Europas ihren Dienst in der Kathedrale von Lausanne an. Ihre Arbeit besteht darin, die 153 Stufen des Belfrieds zum Balkon der Kathedrale zu erklimmen und von 22 Uhr bis 2 Uhr morgens zusammen mit den anderen Wächtern an 365 Tagen im Jahr die Stunden auszurufen, wie einminütiger YouTube-Clip zeigt. «Es ist das erste Mal, dass ein solches Amt von einer Frau bekleidet wird, die damit eine seit 1405 ununterbrochene Tradition fortsetzt, sie aber gleichzeitig weiterentwickelt», heisst es weiter im Communiqué der Stadt Lausanne. 

Erste Frau in Europa

In der Erinnerung der Wächter war dieses Amt noch nie offiziell von einer Frau ausgeübt worden. In den Archiven ist die Geschichte von Blanche Bovard dokumentiert: Die Frau ersetzte 1922 kurzfristig ihren plötzlich verstorbenen Vater, wurde jedoch von den Lausanner Behörden nicht anerkannt. Lausanne ist eine von 63 europäischen Städten, die noch Nachtwächter beschäftigt – in der Schweiz auch noch in Schaffhausen, Bischofszell und Stein am Rhein. Gemäss der «European Guild of Night Watches» wurde diese Funktion noch nie offiziell einer Frau zugänglich gemacht. «Lausanne leistet also Pionierarbeit in Sachen Gleichberechtigung», heisst es im Communiqué. Die Stadt wünscht sich darüber hinaus, dass die «Guette» ab und zu Einheimische und Touristen mit auf den Turm nimmt.

Gewand, Hut und Laterne

Das Amt wird nun von Cassandre Berdoz ausgeübt. Sie ist eine gebürtige Lausannerin, lebt und arbeitet in Lausanne. «Solange ich zurückdenken kann, fasziniert mich diese Tradition und ich wollte immer Nachtwächterin sein», betont die Frau, die nun Geschichte schreibt.» Mit ihrem zeitlosen, geheimnisvoll bestickten Gewand, dem schwarzem Hut auf dem Kopf und einer Laterne in der Hand steigt sie nun allabendlich in den Glockenturm und ruft die aktuelle Uhrzeit aus. Cassandre Berdoz hat auch ein starkes Stimmorgan, das durch jahrelanges Singen am städtischen Konservatorium geformt wurde. Die neue Rekrutin nimmt seit letztem Sommer an der Fortführung der langen Tradition des Nachtwächters der Kathedrale von Lausanne teil. Sie kündet die Stunden in alle vier Winde und bei jedem Wetter an.

Auch heute noch nützlich

Die Kathedralenwache ist allen Nachtschwärmern der Stadt wegen ihrer nächtlichen Durchsagen bekannt. Sie ist damit eine Lausanner Institution par excellence. Zwar braucht man heute dank technischer Neuerungen keinen solchen Brandwarner mehr, auch das Glockenläuten ist längst automatisiert. Trotzdem ist sie für den typischen Charme der Altstadt unverzichtbar und wird von der Lausanner Bevölkerung unterstützt. Auch heute könne man als Turmwächter wertvolle Dienste leisten, betont Cassandre Berdoz gegenüber dem «Tages Anzeiger»: Vor Jahren sei nachts auf dem Genfer See ein Schiff gesunken. Lausannes Turmwächter habe die Szene beobachtet und der Polizei helfen können, das Schiff zu orten.

Bild Screenshot YouTube
16. Januar 2022 | 23:00
von Markus Baumgartner
Lesezeit: ca. 2 Min.
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