Das betroffene Abteil des Zuges © 2018 GFX
George Francis Xavier

Die kürzeste und kleinste Gemeinschaft – oder dankbar: «Er lebt! Er lebt!»

Die Szenerie erlebte ich im Nachtzug von Zürich nach Wien, letzte Woche. Es war meine erste Nachtzugsfahrt in Europa – und eben nur eine Nacht. Vergleichsweise mit meinen drei bis vier tägigen Fahrten in indischen Nachtzügen war es also auch nur eine kurze Reise. Ich kam in ein Couchet-Abteil für vier Personen, vier Menschen aus vier verschiedenen Nationen trafen zusammen. Vier verschiedene Persönlichkeiten. Drei Männer und eine Frau. Kenntnisse zweier Sprachen waren ein Muss, um miteinander kommunizieren zu können. Einer der Mitreisenden war sehr introvertiert, denn er mochte nicht sprechen, und der andere füllte das Abteil mit extremem Redeschwall. Drei Männer und eine Frau. Einer beantwortete lediglich alle Fragen und so wurde ich in dieser Nacht der beste Zuhörer. Die Reise begann und die ersten gemeinsam erörterten Überlegungen starteten. Wann soll das Licht ausgeschaltet werden? Braucht es den Schimmer einer Nachtlampe? Soll die Kabinentür abgeschlossen werden? Wann beginnt Nachtruhe usw. Anders als in einer grossen Organisation haben wir die Regeln spontan, gemeinsam und demokratisch geformt. Beeindruckend.

 

In Zügen gibt es keine Zeit. Es ist nicht möglich, irgendwo sonst hin zu eilen. Es ist Zeit für Bücher, lange Gespräche, oder um einer Dose Bier in der Hand auf die Decke des Zugsabteils zu starren. Jetzt ist auch Zeit, tief in verschiedenen Themen einzutauchen. Es gefällt mir, mit völlig fremden Leuten ins Gespräch zu kommen. Wir werden uns immer weniger fremd. Wir sind jetzt eine kleine Gemeinschaft geworden, die in der Lage ist, Entscheidungen für praktische Dinge zu treffen, und wir können darüber diskutieren. Wir haben ein gemeinsames Reiseziel, und sitzen jetzt als zufällig zusammengewürfelte Gemeinschaft in einem Zugsabteil. Von unseren oberflächlichen Gesprächen zu organisatorischen Belangen beginnen Diskussionen zu ganz verschiedenen Themen; Politik; Migration; Welche Ursachen hat Terrorismus; Hinduismus und Yoga; Frauenvergewaltigungen in Indien; ist Indien nicht ein exotisches Land; Sexabenteuer in Nachtzügen; kann Trump seine Amtszeit beenden, gab es wirklich einen chemischen Angriff in Syrien – wer hat ihn ausgelöst; wird dieser Krieg auch im Chaos enden, wie schon in Libyen und im Irak, usw. Es war wie eine Diskussion in der Arena-Sendung vom SRF. Wechselnd wurden alle zu Experten eines Fachgebiets – Diskussionsleiter war bei uns jedoch immer Kollege Redeschwall.

 

Unsere feurige Diskussion wurde nur kurz vom Ticket prüfenden Zugs-Konduktor und seiner wichtigen Frage unterbrochen: «Wann wollen Sie Frühstücken?» Schnell haben wir uns darauf geeinigt, dass dies um 07.30 Uhr sein soll und wir wurden stolz, in unserer zusammengewürfelten kleinen Gemeinschaft sofort einen so guten Konsens gefunden zu haben. Der Konduktor wünschte uns eine gute Reise, süsse Träume und eine gute Nacht. Die Melodie dieser Worte und sein Gesichtsausdruck spiegelten jedoch die Standardmässigkeit der beim Türeschliessen gemachten Worte. Er hat unserer kleinen Kabine jedoch das Gemeinschaftsleben wieder zurückgegeben. Um weitere Eindringlinge abzuwehren, haben wir die Türe zugesperrt.

 

Die angeregten Gespräche dauerten bis gegen 23 Uhr an. Dann berücksichtigten wir den Wunsch der einzigen Frau im Abteil und löschten das Licht. Jedes Individuum ist wichtig. Wir sind eine beispielhafte Gemeinschaft mit Prinzipien. Zum Schlafen legte ich mich auf das Bett ganz oben hin und rollte mich einigermassen bequem ein. Auch ich schlief bald und stellte mich darauf ein, morgens um 7.30 Uhr, kurz vor Wien, vom Konduktor mit einer Tasse fein duftenden Kaffee sowie seinem guten Morgenwunsch wieder geweckt zu werden.

 

Wegen einem heftigen Ruck, lautem Gepolter und Kreischen wachte ich jedoch plötzlich mit starken Schmerzen auf dem harten Boden auf und hörte auch die anderen drei und weiteren Zugspassagiere wild und laut schreien. Es war kurz vor 5 Uhr morgens und für unsere kleine Gemeinschaft begann jetzt der ganz besondere Teil unserer Zugsreise. Es ist ein Zugunglück; ein Auffahrunfall im Bahnhof Salzburg, wie sich später h

Das betroffene Abteil des Zuges © 2018 GFX

erausstellte. Ich sehe Blut auf unserem extrovertierten Diskussionsleiter des letzten Abends. Es ist also nicht der gute Morgenwunsch des Schaffners mit fein duftendem Kaffee, sondern mein heftiger Aufprall am Boden und die lauten Schreie der Passagiere, die mich geweckt haben.

Zwei von uns sind verletzt. Der nie sprechende Introvertierte rannte mit seinem Gepäck davon, als die zugeklemmte Türe unseres Abteils von der Feuerwehr geöffnet wurde. Unsere Gemeinschaft ist jetzt auf drei reduziert. Die unverletzt gebliebene Mitreisende kümmerte sich um unser Gepäck, als wir beiden Verletzten auf die Plattform des Bahnsteigs geführt wurden. Dort haben wir wieder eine von dieser kleinen Gemeinde verloren. Die Unverletzte hat uns verlassen, um schnell einen nächsten Zug nach Wien zu besteigen. Und wir zwei, der blutende Diskussionsleiter und ich mit meinen Fuss- und Rückenschmerzen haben schweigend zusammengehalten und auf die Anweisungen der Rettungsdienste reagiert. Ich fühle mich in die Film-Szene versetzt von «Being Flynn», wie Robert De Niro bezüglich seinem Lebensmotto sagte: «Wir sind auf diese Erde gesetzt, um anderen Menschen zu helfen», aber in der Praxis scheint es, dass es alle anderen auf der Welt braucht, die sich um mich kümmern oder mich in Ruhe lassen sollten.

 

Völlig fremde haben sich gegenseitig geholfen und die Rettungskräfte unterstützt, so dass Verletzte in die Ambulanzen einsteigen können. Nach rascher Fahrt mit Blaulicht in ein Salzburger Krankenhaus,  guten Untersuchungen aller schmerzenden Körperteile sowie Pflege der Verletzten, die blutenden, konnten  wir gegen Mittag den Weg zurück zum Bahnhof suchen und von dort aus das Weiterreisen organisieren. Mein Mitreisender hatte nur Schweizerfranken mit dabei. Der Mangel an Euro, liess ihn mit mir reisen, da ich etwas Euro mit dabeihatte. Der Abend und der Vormittag wurden so für mich zu einer ganz besonderen Erfahrung. Die entstandenen Bedürfnisse und gegenseitigen Unterstützungen waren wegen der Gemeinschaftsfindung der Abendgespräche gestärkt. In Gemeinschaft teilen wir.

 

Unsere Weiterreise nach Wien wurde zudem zu einer stillen Reise, denn meine verletzte Zunge und sein verletzter Kopf liessen uns nicht diskutieren. Es wurde bis Wien eine meditative Reise und wir verabschiedeten uns dort ohne Zusage für ein späteres Wiedersehen. So endete unsere kurzlebige Gemeinschaft.

Rasch waren die die Rettungsdienste von Salzburg bei uns Verletzten, aber erst später machte mich jemand darauf aufmerksam, dass mir in der Eile dieses doch ganz spezielle Schild um den Hals gehängt wurde… – aber «Er lebt!» © GFX 2018

Ich fühlte mich wie Nomy die sang:

 

You’re never gonna get my soul
‘Cause I’m staying on my own
Never gonna be the same again
Never getting off the night train

 

Viel emotionale Nähe ergab sich in diesem Nachtzug und wegen dem Unfall. Eine seltsame Intimität entwickelte sich zwischen uns, die durch verschiedene Momenten der gemeinsam durchlebten Notlage gebrochen wurde. Der Unfall hat uns zwar getrennt. Aber der Unfall hat uns auch mit gemeinsam Erlebtem unvergesslich zusammengebracht. Es war eine Gemeinschaft, die nur eine Nacht dauerte. Wie ein Eintagsfliegen-Leben. Eintagsfliegen haben die kürzeste Lebensdauer auf der Erde. Ihr Leben dauert nur 24 Stunden. In dieser kurzen Zeit des Lebens bilden sie Gruppen und tanzen gemeinsam auf allen verfügbaren Oberflächen. Unsere Oberfläche startete als One-Night-Community in einem Zugsabteil. Von oberflächlichen Gesprächen ging es über in gute Diskussionen bis zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung – obwohl einer in Panik geraten ist. Ja, Züge müssen ein Albtraum sein für introvertierte Menschen. Selbst von Jesus ist damals einer weggelaufen, als sich das Ende der Weggemeinschaft abzeichnete.

 

PS: Zur selben Zeit in Wien ist etwas Interessantes passiert. Die Kapuzinergemeinschaft, die mich für einige Tage als Gast erwartete, erfuhr am frühen Morgen aus den Nachrichten, dass mein Nachtzug von Zürich nach Wien in Salzburg einen Unfall hatte. Sie waren in grosser Sorge und konnten mich auch telefonisch nicht erreichen. So schauten sie am Fernsehen die verschiedenen Berichte und erkannten mich plötzlich bei den vom Roten Kreuz betreuten Verletzten. Ein über 80-jähriger Mitbruder schrie: «Er lebt! Er lebt! Ruf George an und sag ihm, dass er lebt!»

Bildquellen

  • Das betroffene Abteil des Zuges © 2018 GFX: Bildrechte beim Autor
  • Rasch waren die die Rettungsdienste von Salzburg bei uns Verletzten, aber erst später machte mich jemand darauf aufmerksam, dass mir in der Eile dieses doch ganz spezielle Schild um den Hals gehängt wurde… – aber «Er lebt!» © GFX 2018: Bildrechte beim Autor
Das betroffene Abteil des Zuges © 2018 GFX
28. April 2018 | 14:00
von George Francis Xavier
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!