Heinz Angehrn

Die eigene Meinung ist antastbar

Dies nun der sechste Leitsatz aus der NZZ-Selbstdeklaration. Er dreht das vor einer Woche hier Gesagte einfach um 180 Grad und blickt auf den Sprechenden bzw. Schreibenden selber. Wenn es schon in der grossen Welt der Lehren und Vorstellungen keine einzige Wahrheit gibt, die nicht diskutiert, theoretisch ins Gegenteil gekehrt und auch als Ganze bestritten werden darf, gerade auch nicht die von grossen und würdigen Institutionen verkündeten Wahrheiten und Dogmen, dann gilt das um so mehr für den subjektiven Gebrauch von Sprache durch das einzelne Individuum. Eine Form von geistiger Demut ist gefragt, die wir aber alle nicht gerne leisten. Die aufgeheizte, nach Sensationen gierende Medienwelt, in der wir leben, fördert und fordert ja geradezu Grossmäuler maskulinen und femininen Geschlechts, die ihre «Meinungen» im Brustton absoluter Überzeugung verkünden.

Dies genügt eigentlich schon zur Exegese dieses Leitsatzes. Doch juckt es mich nun in allen Fingern und grauen Zellen, einige Anwendungen vorzulegen. Man(n) verzeihe mir den Spass.

a) Beginnen wir beim absolut Harmlosesten und auch beim Schreibenden selber. Wenn ich zu gewissen mastigen, hochprozentigen und geradezu süsslichen Rotweinen wie etwa fast allem, was unter dem Namen Amarone bei und über 15% kreucht und fleucht, sage: «Das ist ein schlechter/unangenehmer/unpassender… Wein», verstehe ich das natürlich nicht als önologisches Dogma, sondern meine ganz einfach und plump: «Der schmeckt mir nicht». Das könnten wir nun weiter an vielen ästhetischen Exempeln (Musik, Kunst, Theater. Film) fortführen.

b) Wenn wir dann das Auftreten und Argumentieren mancher der alten weissen Patriarchen (aber nicht alle alten weissen Männer sind so, nicht wahr, man vergleiche Leitsatz zwei) wie etwa der Herren Blocher und Trump beobachten, dann sehen wir auch, wie viel Unheil ein so überzogenes Mass an Überheblichkeit und Selbstüberschätzung schon politisch angerichtet hat. Und weit schlimmer: Dass sich ein Teil der Wählerschaft richtiggehend angezogen fühlt, wenn so argumentiert wird. (Was wohl auch den Erfolg von seriösen religiösen Anführern und unseriösen Rattenfängern im selben Feld erklärt.)

c) Und schliesslich wollen wir alle ja auch nicht Wendehälse oder Weicheier genannt werden. Noch schlimmer als die, welche sich nicht bestreiten lassen, sind immer und zu allen Zeiten die gewesen, die ihre Meinung ständig ändern und das Fähnlein nach günstigen Winden hängen.

(Nochmals das PS zum Schluss: Ob die Zeitung, die diesen sechsen Leitsatz formuliert hat, sich in den vergangenen Jahrzehnten auch selber immer so verhielt, kann diskutiert werden.)

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3. Oktober 2020 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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Ein Gedanke zu „Die eigene Meinung ist antastbar

  • stadler karl sagt:

    ad a) Sie haben recht. De gustibus non est disputandum!
    ad b) Im Grnde ist Ihnen sicher zuzustimmen. Aber nur im Grunde! Denn ein Herr Blocher oder ein Präsident Trump lässt sich nicht denken ausser im Kontext einer allgemeinen gesellschaftlichen Atmosphäre und Diskussionskultur. Da wird in keinster Weise nur von einem Blocher oder Trump hinterfragbare Stimmung verbreitet. Vielmehr auch von solchen, die behaupten, vornehmlich alte weisse Männer würden die Welt in den Abgrund treiben; oder ausschliesslich der industrialisierte Westen sei verantwortlich für weltweite Klimaprobleme und Armut; oder Behauptungen von Klimaaktivisten und -aktivistinnen, dass Demokratien und eine liberale Marktwirtschaft a priori nicht tauglich seien, globale Klimaprobleme zu lösen; oder alt-68er, die ende der sechziger, anfangs der siebziger Jahre Personen wie Trotzki, Lenin oder Maotsedong und deren politischem Tun das Wort redeten, und wenn man dagegen hielt, einen verbal als bourgeoisen Reaktionär in die Ecke stellten, und später, nach erklommener Politkarriere bis auf Bundesebene, uns an den Stammtischen den Sinn für Menschenrechte schärfen wollen; oder Vertreter aus der Theologenzunft, die in Anwandlungen von christlicher Kosmopolitik für die Abschaffung der Staatsgrenzen plädieren und diesbezüglliche Gegner des Rassismus verdächtigen; oder fortschrittliche Kräfte in der Kirche, die nicht selten dazu neigen, all jene Leute als reaktionär und diskriminierend zu stemplen oder ihnen rechtsradikale Affinitäten anzudichten, bloss weil sie sich etwas schwer tun mit den neuen “Wahrheiten”, Familienmodelle, Sexualmoral etc. betreffend, nachdem sie während ihrer prägenden Kinder- und Jugendjahren genau von dieser Institution Kirche sozialisiert und getrimmt wurden mit allen begleitenden Sanktionsandrohungen; oder jene, die die USA bei jeder Gelegenheit als imperialistische Kriegstreiber hinstellen, sich aber nur zu gerne als Friedensaktivisten unter dem militärischen Schutzschirm eben jener USA sonnen; oder jene, die als Befürworter in einer unheiligen Allianz mit der Wirtschaft in der Personenfreizügigkeit ausschliesslich eine kulturelle Errungenschaft von Weltoffenheit erblicken, die Gegner als rückwärtsgewandt, nationalistisch und hinterwäldlerisch brandmarken, aber sämtliche Nebenwirkungen ökologischer wie sozialer Art als völlig unbedeutend ausblenden und vor allem nicht wahrhaben wollen, dass es sich dabei um ein geradezu klassisches neoliberales Instrument handelt usw. usw. Jede Strömung, jede gesellschaftlich-poitische Kraft ist doch nur im Kontext eines Gesamtprozesses zu verstehen, ja überhaupt zu denken.
    Sicher, die NZZ ist in einem soliden, bürgerlichen Umfeldmit mit allen ihren Interessen verwurzelt. Aber eine liberale, und über weite Strecken auch ehrliche und vor allem respektvolle Grundhaltung ist ihr nicht abzusprechen. Oft fehlt einem halt die Zeit. Aber es ist sicher bereichernd, wenn man sich mehr oder weniger über ein relativ breites Medienspektrum zu informieren sucht, wo eine Pluralität von Grundhaltungen vertreten ist. Gerade, wenn es um spezifische Themen geht, die einen berühren, die einem wichtig sind.

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