Skulptur in Jerusalem
Gian Rudin

Der Sinn des Möglichkeitssinns.

Wir begeben uns nun auf die Fährte des linguistic turn. Im Laufe der Philosophiegeschichte hat man sich von grosskotzig daherkommenden Konzepten wie «Sein» oder «unbedingte Kausalursache» verabschiedet und sich Handfesterem und Handzahmerem zugewandt. Diese Umorientierungen wurde dann jeweils mit dem Begriff «turn» etikettiert. Einer dieser turns zielte auf die Betrachtung der menschlichen Sprache und fand ihren alltagsnahsten Höhepunkt wohl in der ordinary language philosophy, welche sich auf die systematisierten Lautartikulationen von Ottonormalsprecher fokussierte, um von dort her die Wirklichkeit auszudeuten. Hier wird nun der Versuch gewagt, von einer spezifischen grammatikalischen Beschaffenheit der Sprache aus, das Wesen des Menschen zu ergründen und seine Erlösungsbedürftigkeit aufzuzeigen.

Möglicherweise wird dieser Beitrag von einigen Lesern mit einem schmunzelnden Munde, aber dennoch in Nachdenklichkeit verweilender Gemütslage gelesen worden sein.

Es handelt sich hier um einen im Futur 2 formulierten passiven Potentialis. Was hier ein wenig gekünstelt klingt, wiederspiegelt trotzdem die Grösse des menschlichen Geistes. Das Denken und Sprechen in Möglichkeitsformen. Wir sind im Stande Möglichkeitshorizonte zu erblicken. Ich möchte einen Neologismus einfügen: Possibilitätsspielräume. So macht das Leben doch mehr Spass, als wenn wir in den engen Bahnen eines naturwüchisgen Determinismus verharren müssten. Der Mensch als Möglichkeitswesen, als «nicht festgestelltes Tier» (Friedrich Nietzsche), steht aber mit seinen Freiheitspotentialen nicht im luftleeren Raum, sondern muss seine Möglichkeiten am Freiheitsdrang des Gegenübers abmessen. Schwuppsdiwupps stehen Stichworte wie Verantwortlichkeit, Rücksicht und Empathievermögen im Raum. Der Mensch muss also seine Freiheit stukturieren und die wohl wirkmächtigsten Ressourcen dazu bieten die religiösen Traditionen.

Ich würde mir mehr Liebkosungen von deinen Fingerkuppen wünschen, stattdessen berühren sie permanent und unersättlich den leblosen touchscreen.

Ob dieser kupitive Optativ wohl jemals in einem Ehetherapeutinnensprechzimmer oder einem Eheterapeutensprechzimmer ertönt ist? Um hier den Umständlichkeiten der gendergerechten Sprache zu entgehen könnte man einfach von einem Lebensabschnittspartnerschaftskriseninterventionszentrum sprechen. Der Optativ, die Wunschform wird im Deutschen meist mit einem Modalverb wiedergegeben. Die in der Sprachbegabung enthaltene Möglichkeit, einen Wunsch an jemanden zu adressieren zeigt die soziale Dimension menschlichen Lebens. Indem ich mich wünschend an meinen Mitmenschen wende, nähre ich die Hoffnung auf eine vergemeinschaftete Geschwisterlichkeit. Dies ist seit jeher der Zündstoff für den utopischen Geist, welcher im Menschengeschlecht nie zu erlöschen scheint. Dementsprechend wird der Mensch vom philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner (vgl. Plessner, Helmuth: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft. Stuttgart 1986) auch als Wesen des Konjunktivs angesprochen. Der Konjunktiv ermöglicht den Geschmack fürs Irreale und beflügelt die Einbildungskraft des Menschen. In diesem offnene Prozess, in dem sich der Mensch selbst entwerfen kann und an Grenzen stossen und diese aber auch tanzend überwinden kann, zeigt sich die menschliche Freiheit. Freiheit ist Gottebenbildlichkeit. Freiheit ist die höchste Würde des Menschen. Triumph und Abgrund zugleich. Denn wie wir alle wissen, können wirs mit der Freiheit auch vermasseln und das Ziel verfehlen. Zielverfehlung wird im Griechischen mit hamartia wiedergegeben. Dieser Begriff entspricht wiederum dem biblischen Konzept der Sünde. SÜNDE. Dieses unpopuläre Unwort darf ruhig wieder einmal hinausgeschrien werden. Seichtes Gutmenschentum und lauwarme Wohlfühlausdünstungen können in der Religion des Kreuzes keinen Platz haben. Das Kreuz ist der theodramatische (Hans Urs von Balthasar) Höhepunkt des Engagements Gottes, der sich von der menchlichen Freiheit beschränken aber auch beschenken lässt. Der Mensch als freiheitsbegabtes Möglichkeitswesen ist erlösungsbedürftig und bedarf des Gehorsams. Gehorsam ist hier aber kein blindes Ignorantentum, sondern vertrauendes Hinhören auf die im Gottmenschen aufblitzende gott-menschliche Synergie. Glücklicherweise dürfen wir lesen: Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht (Matthäus 11, 30). Gewiss, das Bild eines in ein Zaumgerät eingepferchten Nutztieres provoziert einen aufmüpfigen Widerwillen in uns, aber gibt uns nicht auch ein satt geschnürter Schuh die Möglichkeit mit festem Schritt der Sichtgrenze entgegenzuvagabundieren?

Skulptur in Jerusalem | © Rudin, Gian
3. September 2016 | 06:53
von Gian Rudin
Lesezeit: ca. 2 Min.
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