Bundeshaus
Sarah Paciarelli

Der Kater nach dem Feiern

Die Schweiz feierte am 7. Februar 2021 ihr erst 50 Jahre junges Frauenstimmrecht. Ich bin nicht in Feierlaune. Klar, es gibt viel zu würdigen. Doch beim Gedanken daran, was es noch alles zu tun gibt, beschleicht mich Katerstimmung. Frauen sind heute rechtlich, aber noch lange nicht faktisch gleichgestellt. Das bereitet mir, auch ohne zu tief ins Glas zu blicken, Kopfschmerzen und Übelkeit. 

Das bisschen Haushalt

Einen grossen Anteil an dieser Misere hat die ungleiche Verteilung unbezahlter Care-Arbeit, also Betreuungs-, Pflege- und Hausarbeit für Kinder und Erwachsene. Sie spielt sich im Privaten ab und ist dennoch politisch, denn wer Care-Arbeit leistet, hat oft den Kürzeren gezogen: schlechtere Karrierechancen, nachteilige Lohnentwicklung, unzureichende soziale Absicherung, gestiegenes Armutsrisiko und Altersarmut. Das wusste schon Iris von Roten, die sich qua Ehevertrag explizit von jeder Art von Hausarbeit freistellen liess. Unbezahlte Care-Arbeit wird zu 61% von Frauen geleistet. Auch Männer wollen zunehmend mehr Care-Verantwortung übernehmen. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind suboptimal. Während frisch gebackene Väter in Deutschland seit 2007 in Elternzeit (bis zu 36 Monate) gehen und dafür sogar Elterngeld (zwischen 65 und 100 Prozent des Nettomonatseinkommens) beantragen können, erhalten Väter in der Schweiz seit 1. Januar 2021 mickrige zwei Wochen Vaterschaftsurlaub. Gleichberechtigung sieht anders aus.

Fragile Selbstbestimmung

Selbstverständlich habe auch ich mein Glas am 7. Februar gehoben, um auf das 50-jährige Jubiläum des Schweizer Frauenstimmrechts anzustossen. Als ich meiner polnischen Grossmutter am Telefon davon erzählte, konnte sie nur seufzen. «Hier in Polen dürfen Frauen seit 1918 wählen und trotzdem beschneiden sie heute unsere Rechte, als seien wir nie mündige Bürgerinnen dieses Landes gewesen», kommentierte sie trocken. Polen hat jüngst, unter Einfluss von Kirche und Konservativen, sein ohnehin schon extrem strenges Abtreibungsgesetz verschärft. In keinem westlichen Land ist Abtreibung so stigmatisiert wie in Polen. Die Pol:innen sind wütend.

Sensibel bleiben

In der Schweiz mussten Ehefrauen bis 1988 auf ein zeitgemässes Eherecht warten. Bis dahin war die Institution Ehe für Frauen ein Hort der Ungleichheit. Wie wäre wohl die Abstimmung über die Revision des Eherechts ausgegangen, wenn Frauen 1988 noch nicht stimmberechtigt gewesen wären? Frauenrechte sind mit langem Atem und harten Bandagen erkämpft worden. Nehmen wir sie nicht als Selbstverständlichkeit hin! Wie fragil die Selbstbestimmung von Frauen sein kann, zeigt sich aktuell in der scheinheiligen Verhüllungsinitiative. Wäre ich in der Schweiz stimmberechtigt, würde ich ganz der Argumentation des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes folgend mit «Nein» stimmen. Um mitentscheiden zu dürfen, muss ich leider noch einige Jahre bis zu meiner Einbürgerung warten.

Wer ist das Volk?

Ich betrachte mich als Teil der Schweizer Gesellschaft. Seit sieben Jahren lebe ich hier, mittlerweile im Besitz einer Niederlassungsbewilligung C. Ich zahle Steuern, verfolge mit Spannung die Parlamentswahlen, verpasse keinen Abstimmungssonntag und keinen Schweizer Tatort. Wählen darf ich nicht, da dieses Privileg nur Schweizer Staatsangehörigen vorbehalten ist. So wie mir geht es fast 1.5 Millionen Ausländer:innen, die dauerhaft in der Schweiz leben. Ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes also ist von politischen Entscheiden weitgehend ausgeschlossen. Wer glaubt, eine Einbürgerung würde Abhilfe schaffen, liegt zwar theoretisch richtig, doch die strengen und langwierigen Einbürgerungsverfahren legen so manchem integrationswilligen Menschen ohne roten Pass Steine in den Weg.

Demokratie erfordert Mut

Demokratie ist eine Staatsform, die politische Entscheide durch den Mehrheitswillen der Bevölkerung fällt. So wie die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen damals polarisierte, so subversiv mag die Vorstellung eines Stimm- und Wahlrechts für in der Schweiz lebende Ausländer:innen heute erscheinen. Aber legitimiert sich Demokratie nicht gerade dadurch, dass Entscheide in der Bevölkerung breit abgestützt sind? Und wird die Schweiz ihrem demokratischen Ideal gerecht, wenn sie ein Viertel ihrer Bevölkerung von politischen Prozessen ausschliesst? An dieser Stelle muss erlaubt sein: Wird die katholische Kirche ihrer eigenen Lehre gerecht, wenn sie Frauen von gleichwürdiger Teilhabe ausschliesst?

Demokratiedefizite zu beseitigen braucht Mut. Die Schweiz hat vor 50 Jahren Courage bewiesen. Möge sie sich diese schöne Eigenschaft auch für künftige Entscheidungen bewahren. Darauf trinke ich heute Abend ein Glas Wein. Santé! Oder wie meine polnische Grossmuter sagen würde: Na zdrowie!

Bundeshaus | © 2021 pixabay CC0 Public Domain
9. Februar 2021 | 14:59
von Sarah Paciarelli
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