Weltkugel zur 500-Jahr-Feier der Reformation in der Lutherstadt Wittenberg.
© Vera Rüttimann, 2016
Vera Rüttimann

Blinklicht aus Lutherstadt Wittenberg

Am letzten Wochenende fuhr ich in die Lutherstadt-Wittenberg zum «Reformationsratschlag», einer vom Leserkreis Publik Forum organisierten Tagung. Seit der Wende war ich an der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt mit dem ICE meist nur vorbei gerauscht und war gespannt, wie sich der Ort heute präsentiert. Ich hatte Bilder von Menschenmassen im Kopf, gerade als ich an die Bilder zur feierlichen Einweihung der restaurierten Schlosskirche dachte. Doch dann das: Strassen, so leer, als wären all die Menschenmassen verschluckt worden. Speziell, diese leeren Kopfsteinpflasterwege in der Nacht oder die verlassenen Gassen im Morgennebel. Es scheint, als ob sich Wittenberg vor dem grossen Ansturm noch mal duckt und tief Atem holt. Diese Ahnung bestätigte sich, als ich mit Mitarbeitern in Läden, Taxi-Leuten oder Kellnern in Cafés sprach. Manche meinen gar, der Stadt gehe noch vor dem großen Festgottesdienst auf den Elbwiesen im Mai 2017 die Puste aus. Jahrelang schon bereitet sich Wittenberg auf das Grossereignis «500 Jahre Reformation» vor, bietet Luther-Nudeln an, giesst die 95 Thesen in Schokolade oder bietet die Schlosskirche als Puzzle zum Zusammenkleben an. Ganz zu Schweigen von den unzähligen Tagungen, die hier in der Luther-Dekade schon stattgefunden haben. Die Touristik-Leute geben sich optimistisch, doch die kleine Stadt wird ächzen, wenn Tausende aus aller Welt hierher pilgern, und sich das Lutherhaus, die Thesentür oder den Cranach-Hof ansehen wollen. Immer Betrieb herrsch schon jetzt an der Thesentür, an der Schlosskirche und an der grossen Weltkugel auf dem Marktplatz, wo der Countdown zum Reformationsjubiläum runtergezählt wird.

Umso mehr genoss ich die Ruhe vor dem Sturm und betätigte mich auf Streifzügen als «Stadtarchäologe», der bei Häusern die Zeitschichten freilegt: Gründerzeit, 2. Weltkrieg, DDR, Nachwende und Neuzeit. Nicht schwer, wer ein geübtes Auge sein eigen nennt. Auch diese Stadt liegt noch immer da wie ein offenes Buch, in dem man blättern kann, weil hier im Gegensatz zu Berlin noch nicht alle historischen Schriften pastellfarben überpinselt wurden.

Weltkugel zur 500-Jahr-Feier der Reformation in der Lutherstadt Wittenberg. © Vera Rüttimann, 2016
25. Oktober 2016 | 04:11
von Vera Rüttimann
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