Philip Steiner

Auf den Flügeln des Gebetes

Manchmal geschieht es, dass jemandem ein Satz oder ein Wort ins Auge springt und einen Gedanken eröffnet, der vorher nicht da war. So etwas ist mir am letzten Mittwoch während den Laudes, dem Morgengebet der Mönche, passiert. Im Hymnus sang ich zusammen mit den Mönchen den folgenden Vers: «Your peaceful presence, giving strength, is everywhere, and fallen men may rise again on wings of prayer.» Übersetzt lautet der Vers etwa so: «Deine friedvolle Gegenwart, welche Kraft gibt, ist überall, und der gefallene Mensch kann sich wieder erheben mit den Flügeln des Gebets.»
Der Vergleich des Gebetes mit den Flügeln hat mich angesprochen. Zwar bleibt es als beschreibendes Bild hinter der Wirklichkeit stets zurück, doch spricht es etwas Grundlegendes an: Das Gebet führt uns zu Gott.
Ich schätze im Kloster die Vielfalt der Möglichkeiten, mich im Gebet zu Gott emporzuschwingen. Die fünf Gebetszeiten zusammen mit den Mitbrüdern im Chor der Klosterkirche bilden das Grundgerüst des Gebetslebens eines Mönches. Daneben gibt es die geistliche Lesung, in welcher sich der Mönch von Gottes Wort in der Stille ansprechen lässt. Ebenfalls einen Platz im geistlichen Leben haben die traditionellen Gebetsformen der Anbetung (das stille Verweilen vor dem im eucharistischen Brot gegenwärtigen Herrn) und des Rosenkranzgebetes, welches besonders Maria, die Mutter Jesu, ehrt.
Interessanterweise lassen all diese Gebetsformen den Mönch nicht zu einem abgehobenen Wesen werden – hier zeigt sich die Unzulänglichkeit des Flügel-Bildes. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mönch wird zu einem geerdeten Menschen, der Gottes Gegenwart im Alltag wahrnimmt – in der Banalität des Alltags und in der Begegnung mit den Mitmenschen. So wird das Leben selbst zum Gebet.
Der amerikanische Trappist Thomas Merton drückt das in den folgenden Worten aus: «Gebet besteht nicht in dem Bemühen, Gott zu erreichen, sondern darin, unsere Augen zu öffnen und zu erkennen, dass wir schon bei ihm sind.»
fr. Philipp
 

1. Dezember 2012 | 16:26
von Philip Steiner
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