Murmelwunder © Thomas Boutellier
Thomas Boutellier

Die Welt ist aus dem Staunen geraten

Jeden Morgen wenn ich meinen PC anschalte, schaltet sich auch die ganze Social-Media Maschinerie an. Und jeden Morgen staune ich, was auf dieser Welt alles so geschieht.
Wobei «staunen» ist nicht das richtige Wort.
Warum denn nicht?
Staunen, das ist etwas Besonderes. Das habe ich letzthin am Fernseher ganz neu gelernt. Es war eine Dokumentation über Kindheitserinnerungen in Österreich während der Kaiserzeit. Da sprach eine alte Dame. Sie hatte einen Jahrgang vor 1900. Sie erzählte, wie es war, als die ersten Autos durch die Strassen fuhren. Welch ein Erlebnis das gewesen war. Wie sie während eines Autorennens am Strassenrand gewartet hatten, bis die Autos vorbeigetuckert kamen. Sie schwelgte in den Erinnerungen, Staub, Mäntel, Helme und vieles mehr. Als sie geendet hatte, schwieg sie einen Moment und sagte dann: Und wissen sie was das Verrückte war? Sie fuhren nur den Hügel hoch und wieder runter.
Sie meinte damit, dass dies ein Quantensprung war: Autos die ein paar Kilometer fuhren. Damals eine Ungeheuerlichkeit, 20 Jahre später ein Katzensprung. Und sie hatte noch das Staunen in den Augen, wie damals.
Ich habe mich zu meiner Frau umgedreht und sie angesehen. Wann haben wir in unserem Leben einmal so wie die Dame gestaunt? Waren wirklich erstaunt über die technischen oder anderen Erfindungen?
Ich habe in meinem Leben viele Erfindungen erlebt, aber etwas wie ein Auto und dann die Entwicklung des Autos habe ich nicht erlebt. Damals ging es Jahre, bis das Alte so entwickelt war, dass es ganz neu schien. Heute geht’s gefühlte Wochen bis wieder etwas Neues das noch gar nicht so Alte ersetzt.
Es geht so schnell, dass man nicht mehr richtig ins Staunen kommt, oder vielleicht nicht mehr aus dem Staunen heraus, was das Staunen eben nicht mehr speziell macht. Man merkt gar nicht mehr, wann man das letzte Mal gestaunt hat. All das Neue und Unglaubliche hat sich zum Alltag entwickelt.

Staunen üben

Mit Jugendlichen auf dem Firmweg oder in der Pfadi gehe ich in den Wald. Sozusagen angeleitetes Staunen. Wir staunen über die Wunder, die Gott uns mit seiner Schöpfung geschenkt hat. Wir staunen, dass es Dinge gibt, die wir eigentlich gar nicht erfassen können.
An einem abgesägten Baum zählen wir die Jahrringe. Immer nach 10 Ringen überlegen wir, was geschichtlich in dieser Zeit geschehen ist. Ca. 40 Jahre können die Jugendlichen mithalten, dann wird es schwierig. Spannenderweise nicht, weil ihnen die Geschichtskenntnisse fehlen. Es ist einfach unfassbar, dass der Baum das alles erlebt haben soll, was für Sie einfach eine Seite im Geschichtsbuch ist. Und wenn man dann merkt, dass ein Baum mit 40cm. Durchmesser (nicht gerade ein grosser Baum) mehr erlebt hat, als unsere Grosseltern oder sogar unsere Urgrosseltern, dann kommen die Jugendlichen ins Staunen.
Dann glänzt das Glitzern der alten Dame aus Österreich in den Augen der jungen Menschen.
Sie merken plötzlich, dass es nicht nur die jetzige Realität gibt. Und die Zeit scheint trotz all der technischen Fortschritte einen Moment stehen zu bleiben.
Diese Augenblicke überzeugen mich immer wieder davon, dass wir wieder Staunen lernen müssen. Einfach in einem Tempo leben, arbeiten, lieben etc. das reicht nicht fürs Leben.
Staunen ist angesagt. Sei es am Bahnhof in Zürich einfach mal stehen bleiben und sich umschauen, sich bewusst machen, dass Jeder und Jede ein Leben hat, so wie ich selber.
Oder im Wald ganz einsam stehen, einatmen und feststellen, wie das ist, alleine zu sein.
All dieses Staunen bringt uns irgendwann auf die Frage nach dem Warum. Dann kommt Gott ins Spiel. Gott, der das alles gemacht hat, der sanft seine Hand über uns hält und sich freut, wenn wir ins Staunen geraten.

Auf der Suche nach Erklärungen

Dann kommt von den Jugendlichen oft eine ganz profane Erklärung für das Erlebte. Gott hat mit ihrem Leben nicht mehr viel zu tun. Sie sind es sich gewohnt, dass alles erklärbar ist.
Hier wage ich mit ihnen ein Experiment.
Sie bekommen ein Couvert, in dem eine farbige Murmel drinsteckt. Ohne die Murmel anzusehen, sollen sie die Murmel durch anfassen erfassen, die Farben spüren, das Muster ertasten, welches in der Murmel drin ist.
Geht nicht? Hat schon mancher gesagt.  Aber es geht!
Wer sich darauf einlässt, der ist in der Lage zu erspüren, welche Farbe die Murmel hat. Es ist auch möglich mehrere Farben herauszufinden und Kinder, die das Staunen noch nicht verlernt haben (und auch Erwachsene) können die Muster spüren.
Dann zeichnet man das Gespürte. Wenn man sich auf das Experiment einlässt und sich zum Staunen anregen lässt, kommt es so heraus, wie das Bild am Anfang des Textes, das eine 17jährige Firmandin gezeichnet hat. Und gestaunt hat sie.
Wie das geht? Keine Ahnung, alle Erklärungsversuche laufen ins Leere.
Es wie mit Gott. Als Mose Gott sehen wollte, musste er sich umdrehen. Dann ging Gott an ihm vorbei und Mose hat ihn gespürt. Auch damals hat er sicher gestaunt, dass er etwas gespürt hat ohne zu erfassen, was genau passiert ist.
Die Welt ist ins Staunen geraten.
Murmelwunder © Thomas Boutellier
17. November 2016 | 14:51
von Thomas Boutellier
Lesezeit: ca. 3 Min.
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