Vaclav Havel auf einem Wahlplakat, kurz vor Beginn seiner Präsidentschaft. 
© Vera Rüttimann
Vera Rüttimann

Václav Havel fehlt

Am heutigen Mittwoch wäre der einstige tschechische Bürgerrechtler und Staatspräsident 80 Jahre alt geworden. Dramatiker, Menschenrechtler und charismatischer Kopf  – Václav Havel ist für viele noch heute eine Ikone. Vor allem in den USA. Unvergessen, wie er Bill Clinton einst in den Prager Jazzkeller «Reduta» einlud, wo er dem damaligen US-Präsidenten ein Saxofon schenkte, auf dem dieser dann tatsächlich spielte. Der 28. September wird jedes Jahr in New York als Václav-Havel-Tag begangen.

Auch für mich war und ist Václav Havel ein Lebensidol. Sein Buch «Versuch, in der Wahrheit zu leben» steht noch heute in meinem Regal.

Ich hatte das Glück, ihn 1989 kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten live zu erleben. Während der «Samtenen Revolution» verbrachte ich im November 1989 10 Tage in Prag. Diese Zeit hat sich in mir unauslöschlich eingebrannt und hat meine Vita nachhaltig geprägt. Durch kirchliche Kontakte wusste ich damals, wo sich die relevanten Ereignisse abspielten und wo die Kristallisationspunkte waren, an denen sich Bürgerrechtler und Künstler trafen. Das war damals vor allem die «Laternica magica». Die Atmosphäre darin war beinahe rauschhaft: Hier wurden die grossen Demonstrationen gegen das verhasste kommunistische Regime auf dem Wenzelsplatz geplant. Alle rauchten wie die Schlotte. Man kochte pausenlos Kaffee. Die gesamte Theaterbelegschaft arbeitete für die politische Wende. Karikaturen, Plakate und Presseerklärungen, alles entstand in diesen Räumen, in denen es ständig nach Schminke, verschwitzten Kostümen und frisch gedruckten Plakaten roch. Und mitten drin war Václav Havel in seinem grünen Parka, immer eine Kippe im Mund. Ich hatte das  Gefühl, im richtigen Augenblick am richtigen Ort zu sein. Unvergessen der Moment, als die Menschen im tausendstimmigen Chor auf dem Wenzelsplatz riefen: «Havel na hrad " – Havel auf die Burg!

Was für ein cooler Typ, dachte ich schon damals mit Millionen anderen. Darunter waren auch viele Kulturleute. Später empfing Havel in seinem Präsidentenpalast die Rolling Stones. Weiss Gott nicht alles ist ihm in seiner Amtszeit geglückt. Aber einen wie ihn gab es danach nie wieder. Seine nachdenklich-melancholische Art, seine Intelligenz und seine Aufrichtigkeit – eine formidable Mischung. Dazu noch ein attraktiver Kerl. Beinahe eine Filmfigur, wie sie wohl auch Milan Kundera nicht besser hätte erschaffen können.

Viel wichtiger aber ist: Er hatte als Politiker wirklich etwas zu sagen und war eine Instanz, der die Welt zuhörte. Václav Havel würde sich wohl auch heute noch gesellschafts-politisch einmischen. Er hätte weiterhin Gier und das Streben nach Macht angeprangert sowie den Zerfall von Moral und Werten. Der Literat hätte sich mit der Erosion der europäischen Idee nicht abgefunden, sondern hätte mit Texten dagegen angeschrieben. Kurzum:  Seine Stimme fehlt.

Ich gehe heute in das Tschechische Zentrum in der Wilhelmstrasse in Berlin-Mitte, wo ein Podium unter dem Titel «Václav Havel: The European» stattfindet. Ein Gesprächsabend, an dem über Václav Havel und seine immer noch aktuellen Ideen für Europa gesprochen wird. Zu sehen sind ausserdem Bilder des Fotografen Karel Cudlín, der Václav Havel viele Jahre lang mit der Kamera begleitete. Mir ist aus den November-Tagen nur das Bild vom Plakat mit dem Slogan «Havel na grad» geblieben. Ich hüte es wie einen kostbaren Schatz.

 

 

Vaclav Havel auf einem Wahlplakat, kurz vor Beginn seiner Präsidentschaft. © Vera Rüttimann
5. Oktober 2016 | 14:40
von Vera Rüttimann
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